wir noch Andre gebrauchen wollen: wir haben nur uns; und können nur Andre lieben. Wollen wir aber Andre haben, und uns lieben -- dafür haben Sie sich am meisten zu hüten. Und dies muß nicht ein bloßes Diktum, artig ausgesprochen, werden: Sie müssen das Diktum verschweigen; und müssen es leben: wenn Sie können. Dann wird Ihnen Ihr schönes Haus nicht drückend, und als erfüllter Wunsch drückend dastehn. Das Haus ist hier nur ein Exempel, gro- ßer, langjähriger, vielfältiger Lebensfiguren. Wenn Sie nicht Acht geben, wird immer wieder eine solche dastehn. Erstlich, müssen Sie sich dreist sagen, was Sie wollen; und dann, das nicht oder verkehrt Erhaltene in's Auge fassen; und sich ganz, völlig bedauren; und klar sagen, was da fehlt, und weßwegen. Auch ein Genuß! im Wahrheitsdasein. "Mensch! werde we- sentlich!" fängt ein Distichon von Angelus Silesius an. O! hülfe so ein wesentliches Wort; wäre uns da nicht Allen ge- holfen? Wenn dann nur ein Mensch es spräche! -- Gegen- seitiger Unterricht! -- Darum sagte ich zu Anfang: "ich möchte schweigen." Aber ich werde weiter sprechen. Wenn ich nicht ganz schweigen will, reizt mich Ihr Brief dazu. Es ist durch- aus verboten, daß "uns unser Naturell unbequem sein darf;" und gar noch "Andern." Welches doch nur heißt: ich mag's nicht bessern; welches wieder auch gar nicht nöthig ist: nur gezwungen muß ein jedes werden -- und das ist die ganze ethische Aufgabe unseres Lebens, lebendigsten Lebens, -- treu, wahr, redlich zu sein; und das bei der größten Kleinig- keit, und in jedem Augenblick; immer auf Sein, und nicht nur auf Schein auszugehn. Ein Naturell, so ge-
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wir noch Andre gebrauchen wollen: wir haben nur uns; und können nur Andre lieben. Wollen wir aber Andre haben, und uns lieben — dafür haben Sie ſich am meiſten zu hüten. Und dies muß nicht ein bloßes Diktum, artig ausgeſprochen, werden: Sie müſſen das Diktum verſchweigen; und müſſen es leben: wenn Sie können. Dann wird Ihnen Ihr ſchönes Haus nicht drückend, und als erfüllter Wunſch drückend daſtehn. Das Haus iſt hier nur ein Exempel, gro- ßer, langjähriger, vielfältiger Lebensfiguren. Wenn Sie nicht Acht geben, wird immer wieder eine ſolche daſtehn. Erſtlich, müſſen Sie ſich dreiſt ſagen, was Sie wollen; und dann, das nicht oder verkehrt Erhaltene in’s Auge faſſen; und ſich ganz, völlig bedauren; und klar ſagen, was da fehlt, und weßwegen. Auch ein Genuß! im Wahrheitsdaſein. „Menſch! werde we- ſentlich!“ fängt ein Diſtichon von Angelus Sileſius an. O! hülfe ſo ein weſentliches Wort; wäre uns da nicht Allen ge- holfen? Wenn dann nur ein Menſch es ſpräche! — Gegen- ſeitiger Unterricht! — Darum ſagte ich zu Anfang: „ich möchte ſchweigen.“ Aber ich werde weiter ſprechen. Wenn ich nicht ganz ſchweigen will, reizt mich Ihr Brief dazu. Es iſt durch- aus verboten, daß „uns unſer Naturell unbequem ſein darf;“ und gar noch „Andern.“ Welches doch nur heißt: ich mag’s nicht beſſern; welches wieder auch gar nicht nöthig iſt: nur gezwungen muß ein jedes werden — und das iſt die ganze ethiſche Aufgabe unſeres Lebens, lebendigſten Lebens, — treu, wahr, redlich zu ſein; und das bei der größten Kleinig- keit, und in jedem Augenblick; immer auf Sein, und nicht nur auf Schein auszugehn. Ein Naturell, ſo ge-
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wir noch Andre gebrauchen wollen: wir haben nur uns; und
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zu hüten. Und dies muß nicht ein bloßes Diktum, artig
ausgeſprochen, werden: Sie müſſen das Diktum verſchweigen;
und müſſen es leben: wenn Sie können. Dann wird Ihnen
Ihr ſchönes Haus nicht drückend, und als erfüllter Wunſch
drückend daſtehn. Das Haus iſt hier nur ein Exempel, gro-
ßer, langjähriger, vielfältiger Lebensfiguren. Wenn Sie nicht
Acht geben, wird immer wieder eine ſolche daſtehn. Erſtlich,
müſſen Sie ſich dreiſt ſagen, was Sie wollen; und dann, das
nicht oder verkehrt Erhaltene in’s Auge faſſen; und ſich ganz,
völlig bedauren; und klar ſagen, was da fehlt, und weßwegen.
Auch ein Genuß! im Wahrheitsdaſein. „Menſch! werde we-
ſentlich!“ fängt ein Diſtichon von Angelus Sileſius an. O!
hülfe ſo ein weſentliches Wort; wäre uns da nicht Allen ge-
holfen? Wenn dann nur ein Menſch es ſpräche! — Gegen-
ſeitiger Unterricht! — Darum ſagte ich zu Anfang: „ich möchte
ſchweigen.“ Aber ich werde weiter ſprechen. Wenn ich nicht
ganz ſchweigen will, reizt mich Ihr Brief dazu. Es iſt durch-
aus verboten, daß „uns unſer Naturell unbequem ſein darf;“
und gar noch „Andern.“ Welches doch nur heißt: ich mag’s
nicht beſſern; welches wieder auch gar nicht nöthig iſt: nur
gezwungen muß ein jedes werden — und das iſt die ganze
ethiſche Aufgabe unſeres Lebens, lebendigſten Lebens, —
treu, wahr, redlich zu ſein; und das bei der größten Kleinig-
keit, und in jedem Augenblick; immer auf Sein, und
nicht nur auf Schein auszugehn. Ein Naturell, ſo ge-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 403. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/411>, abgerufen am 22.12.2024.
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