Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Man wundert sich so sehr, und beweist so stark, daß dem
Adel die alten Vorzüge und Ehrerbietung nicht mehr wollen
gestattet werden. Warum bemerkt niemand, daß es den Ge-
lehrten (les doctes), den Doktoren eben so geht? Sonst war
ein solcher ein vornehmer, verehrter Herr; ihm schrieb man
Gelehrsamkeit wie Tausendkünste zu: man war überzeugt, es
sei ein anderer Mann, als die, welche den Ehrentitel nicht
erhalten hatten, und es war eine Beglaubigung. Jetzt ist es
zu bekannt, daß eine Menge Leute gelehrter sind, als viele
Doktoren. Die Welt schreitet wirklich fort, und der Punkt,
worin dies Fortschreiten besteht, ist auch gleich das Zeichen
davon. Kenntnisse, Vermögen aller Art, Bildung, wird, ist
allgemein. Breitet sich aus: sagt man so oft, ohne an den
buchstäblichen Sinn dieses Ausdrucks zu denken: der Ertrag
der Völker breitet sich über die Erde. Das ist der Zeit Kör-
per, möchte ich sagen; anstatt des schon mißlichen Wortes Zeit-
geist. Die Folgerungen mag man nun ferner machen. Es
glauben ja Viele und ich auch, die Geister machen sich Körper.
Die Zeit ist ein Geist, und schafft sich ihren Körper.



An Oelsner, in Paris.

-- Ich weiß, es giebt keinen Trost, keinen in Worte zu
fassenden. Lear sagt zu einem, der ihm Unglück klagt: "O!
du würdest alles vergessen, wenn du meines hörtest!" Dies

III. 3

Man wundert ſich ſo ſehr, und beweiſt ſo ſtark, daß dem
Adel die alten Vorzüge und Ehrerbietung nicht mehr wollen
geſtattet werden. Warum bemerkt niemand, daß es den Ge-
lehrten (les doctes), den Doktoren eben ſo geht? Sonſt war
ein ſolcher ein vornehmer, verehrter Herr; ihm ſchrieb man
Gelehrſamkeit wie Tauſendkünſte zu: man war überzeugt, es
ſei ein anderer Mann, als die, welche den Ehrentitel nicht
erhalten hatten, und es war eine Beglaubigung. Jetzt iſt es
zu bekannt, daß eine Menge Leute gelehrter ſind, als viele
Doktoren. Die Welt ſchreitet wirklich fort, und der Punkt,
worin dies Fortſchreiten beſteht, iſt auch gleich das Zeichen
davon. Kenntniſſe, Vermögen aller Art, Bildung, wird, iſt
allgemein. Breitet ſich aus: ſagt man ſo oft, ohne an den
buchſtäblichen Sinn dieſes Ausdrucks zu denken: der Ertrag
der Völker breitet ſich über die Erde. Das iſt der Zeit Kör-
per, möchte ich ſagen; anſtatt des ſchon mißlichen Wortes Zeit-
geiſt. Die Folgerungen mag man nun ferner machen. Es
glauben ja Viele und ich auch, die Geiſter machen ſich Körper.
Die Zeit iſt ein Geiſt, und ſchafft ſich ihren Körper.



An Oelsner, in Paris.

— Ich weiß, es giebt keinen Troſt, keinen in Worte zu
faſſenden. Lear ſagt zu einem, der ihm Unglück klagt: „O!
du würdeſt alles vergeſſen, wenn du meines hörteſt!“ Dies

III. 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0041" n="33"/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Januar 1821.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Man wundert &#x017F;ich &#x017F;o &#x017F;ehr, und bewei&#x017F;t &#x017F;o &#x017F;tark, daß dem<lb/>
Adel die alten Vorzüge und Ehrerbietung nicht mehr wollen<lb/>
ge&#x017F;tattet werden. Warum bemerkt niemand, daß es den Ge-<lb/>
lehrten (<hi rendition="#aq">les doctes</hi>), den Doktoren eben &#x017F;o geht? Son&#x017F;t war<lb/>
ein &#x017F;olcher ein vornehmer, verehrter Herr; ihm &#x017F;chrieb man<lb/>
Gelehr&#x017F;amkeit wie Tau&#x017F;endkün&#x017F;te zu: man war überzeugt, es<lb/>
&#x017F;ei ein anderer Mann, als die, welche den Ehrentitel nicht<lb/>
erhalten hatten, und es war eine Beglaubigung. Jetzt i&#x017F;t es<lb/>
zu bekannt, daß eine Menge Leute gelehrter &#x017F;ind, als viele<lb/>
Doktoren. Die Welt &#x017F;chreitet wirklich fort, und der Punkt,<lb/>
worin dies Fort&#x017F;chreiten be&#x017F;teht, i&#x017F;t auch gleich das Zeichen<lb/>
davon. Kenntni&#x017F;&#x017F;e, Vermögen aller Art, Bildung, wird, i&#x017F;t<lb/>
allgemein. Breitet &#x017F;ich aus: &#x017F;agt man &#x017F;o oft, ohne an den<lb/>
buch&#x017F;täblichen Sinn die&#x017F;es Ausdrucks zu denken: der Ertrag<lb/>
der Völker breitet &#x017F;ich über die Erde. Das i&#x017F;t der Zeit Kör-<lb/>
per, möchte ich &#x017F;agen; an&#x017F;tatt des &#x017F;chon mißlichen Wortes Zeit-<lb/>
gei&#x017F;t. Die Folgerungen mag man nun ferner machen. Es<lb/>
glauben ja Viele und ich auch, die Gei&#x017F;ter machen &#x017F;ich Körper.<lb/>
Die Zeit i&#x017F;t ein Gei&#x017F;t, und &#x017F;chafft &#x017F;ich ihren Körper.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>An Oelsner, in Paris.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, den 9. März 1821.</hi> </dateline><lb/>
            <p>&#x2014; Ich weiß, es giebt keinen Tro&#x017F;t, keinen in Worte zu<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;enden. Lear &#x017F;agt zu einem, der ihm Unglück klagt: &#x201E;O!<lb/>
du würde&#x017F;t alles verge&#x017F;&#x017F;en, wenn du meines hörte&#x017F;t!&#x201C; Dies<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">III.</hi> 3</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[33/0041] Januar 1821. Man wundert ſich ſo ſehr, und beweiſt ſo ſtark, daß dem Adel die alten Vorzüge und Ehrerbietung nicht mehr wollen geſtattet werden. Warum bemerkt niemand, daß es den Ge- lehrten (les doctes), den Doktoren eben ſo geht? Sonſt war ein ſolcher ein vornehmer, verehrter Herr; ihm ſchrieb man Gelehrſamkeit wie Tauſendkünſte zu: man war überzeugt, es ſei ein anderer Mann, als die, welche den Ehrentitel nicht erhalten hatten, und es war eine Beglaubigung. Jetzt iſt es zu bekannt, daß eine Menge Leute gelehrter ſind, als viele Doktoren. Die Welt ſchreitet wirklich fort, und der Punkt, worin dies Fortſchreiten beſteht, iſt auch gleich das Zeichen davon. Kenntniſſe, Vermögen aller Art, Bildung, wird, iſt allgemein. Breitet ſich aus: ſagt man ſo oft, ohne an den buchſtäblichen Sinn dieſes Ausdrucks zu denken: der Ertrag der Völker breitet ſich über die Erde. Das iſt der Zeit Kör- per, möchte ich ſagen; anſtatt des ſchon mißlichen Wortes Zeit- geiſt. Die Folgerungen mag man nun ferner machen. Es glauben ja Viele und ich auch, die Geiſter machen ſich Körper. Die Zeit iſt ein Geiſt, und ſchafft ſich ihren Körper. An Oelsner, in Paris. Berlin, den 9. März 1821. — Ich weiß, es giebt keinen Troſt, keinen in Worte zu faſſenden. Lear ſagt zu einem, der ihm Unglück klagt: „O! du würdeſt alles vergeſſen, wenn du meines hörteſt!“ Dies III. 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/41
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 33. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/41>, abgerufen am 24.11.2024.