Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Aber was dachte ich bei seinem wirklichen Ende, als Sie die
"Frau Gemahlin" grüßten; und hinzufügen: sie werde Sie,
ohnerachtet Sie sich mit ihr nicht mehr in Briefen verständi-
gen -- so war ja wohl das Wort -- können, nicht aufgege-
ben haben. Ich verstummte tief in mich hinein. Mein gan-
zes inneres Leben wehte, wie mit abertausend großen Flügeln,
grau an mir vorüber: alles was ich je gedacht haben mochte:
jedes Resultat, was ich gefunden, flog namenlos an mir vor-
bei. Alles wollte ich antworten; nichts kann ich antworten.
Der ganze Triumphbrief, an dem ich gewiß Theil nehme, den
Sie Varnh. geschrieben, ist mir zu nichts geworden: ich sehe
nur mich. Und habe, wie bei jedem schlagenden evenement,
gelernt. In mir, heißt das: eine neue Möglichkeit entdeckt.
Ich wundre mich nämlich, daß noch irgend ein Mensch --
außer mich zu stören, durch Ennui, Ärger, Ungeduld, in die
er mich versetzen kann -- noch auf mich im Bösen wirken
kann. Menschen können mir gefallen, als Eindruck im Gan-
zen; durch einzelne Eigenschaften und Züge; ich kann sie be-
mitleiden, sie können mich empören. Aber mein Herz in gra-
der Beziehung nicht mehr unglücklich machen; noch es für
mich beschäftigen. Liebt mich: liebt mich nicht. Findet das,
weßwegen ich mich lieben könnte; oder findet es nicht. So
auch standen Sie mir. Sie hatten mir ja selbst geschrieben,
was ich heute in Varnhagens Brief las. Woher frappirte es
mich so? frage ich. Sie frage ich nicht: mich frage ich. Weil
ich in meiner tiefsten Seele dachte: er hat dich doch verstan-
den; wenn er nur je deinen Brief noch Einmal liest; er muß
jeden einzelnen Ausruf, jeden Satz, jeden Ausdruck verstehn;

und

Aber was dachte ich bei ſeinem wirklichen Ende, als Sie die
„Frau Gemahlin“ grüßten; und hinzufügen: ſie werde Sie,
ohnerachtet Sie ſich mit ihr nicht mehr in Briefen verſtändi-
gen — ſo war ja wohl das Wort — können, nicht aufgege-
ben haben. Ich verſtummte tief in mich hinein. Mein gan-
zes inneres Leben wehte, wie mit abertauſend großen Flügeln,
grau an mir vorüber: alles was ich je gedacht haben mochte:
jedes Reſultat, was ich gefunden, flog namenlos an mir vor-
bei. Alles wollte ich antworten; nichts kann ich antworten.
Der ganze Triumphbrief, an dem ich gewiß Theil nehme, den
Sie Varnh. geſchrieben, iſt mir zu nichts geworden: ich ſehe
nur mich. Und habe, wie bei jedem ſchlagenden événement,
gelernt. In mir, heißt das: eine neue Möglichkeit entdeckt.
Ich wundre mich nämlich, daß noch irgend ein Menſch —
außer mich zu ſtören, durch Ennui, Ärger, Ungeduld, in die
er mich verſetzen kann — noch auf mich im Böſen wirken
kann. Menſchen können mir gefallen, als Eindruck im Gan-
zen; durch einzelne Eigenſchaften und Züge; ich kann ſie be-
mitleiden, ſie können mich empören. Aber mein Herz in gra-
der Beziehung nicht mehr unglücklich machen; noch es für
mich beſchäftigen. Liebt mich: liebt mich nicht. Findet das,
weßwegen ich mich lieben könnte; oder findet es nicht. So
auch ſtanden Sie mir. Sie hatten mir ja ſelbſt geſchrieben,
was ich heute in Varnhagens Brief las. Woher frappirte es
mich ſo? frage ich. Sie frage ich nicht: mich frage ich. Weil
ich in meiner tiefſten Seele dachte: er hat dich doch verſtan-
den; wenn er nur je deinen Brief noch Einmal lieſt; er muß
jeden einzelnen Ausruf, jeden Satz, jeden Ausdruck verſtehn;

und
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0360" n="352"/>
Aber was dachte ich bei &#x017F;einem wirklichen Ende, als Sie die<lb/>
&#x201E;Frau Gemahlin&#x201C; grüßten; und hinzufügen: &#x017F;ie werde Sie,<lb/>
ohnerachtet Sie &#x017F;ich mit ihr nicht mehr in Briefen ver&#x017F;tändi-<lb/>
gen &#x2014; &#x017F;o war ja wohl das Wort &#x2014; können, nicht aufgege-<lb/>
ben haben. Ich ver&#x017F;tummte tief in mich hinein. Mein gan-<lb/>
zes inneres Leben wehte, wie mit abertau&#x017F;end großen Flügeln,<lb/>
grau an mir vorüber: alles was ich je gedacht haben mochte:<lb/>
jedes Re&#x017F;ultat, was ich gefunden, flog namenlos an mir vor-<lb/>
bei. Alles wollte ich antworten; nichts kann ich antworten.<lb/>
Der ganze Triumphbrief, an dem ich gewiß Theil nehme, den<lb/>
Sie Varnh. ge&#x017F;chrieben, i&#x017F;t mir zu nichts geworden: ich &#x017F;ehe<lb/>
nur mich. Und habe, wie bei jedem &#x017F;chlagenden <hi rendition="#aq">événement,</hi><lb/>
gelernt. In mir, heißt das: eine neue Möglichkeit entdeckt.<lb/>
Ich wundre mich nämlich, daß noch irgend ein Men&#x017F;ch &#x2014;<lb/>
außer mich zu <hi rendition="#g">&#x017F;tören</hi>, durch Ennui, Ärger, Ungeduld, in die<lb/>
er mich ver&#x017F;etzen kann &#x2014; noch auf mich im Bö&#x017F;en wirken<lb/>
kann. Men&#x017F;chen können mir gefallen, als Eindruck im Gan-<lb/>
zen; durch einzelne Eigen&#x017F;chaften und Züge; ich kann &#x017F;ie be-<lb/>
mitleiden, &#x017F;ie können mich empören. Aber mein Herz in gra-<lb/>
der Beziehung nicht mehr unglücklich machen; noch es für<lb/>
mich be&#x017F;chäftigen. Liebt mich: liebt mich nicht. Findet das,<lb/>
weßwegen ich mich lieben könnte; oder findet es nicht. So<lb/>
auch &#x017F;tanden Sie mir. Sie hatten mir ja &#x017F;elb&#x017F;t ge&#x017F;chrieben,<lb/>
was ich heute in Varnhagens Brief las. Woher frappirte es<lb/>
mich &#x017F;o? frage ich. Sie frage ich nicht: mich frage ich. Weil<lb/>
ich in meiner tief&#x017F;ten Seele dachte: er hat dich doch ver&#x017F;tan-<lb/>
den; wenn er nur je deinen Brief noch Einmal lie&#x017F;t; er muß<lb/>
jeden einzelnen Ausruf, jeden Satz, jeden Ausdruck ver&#x017F;tehn;<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[352/0360] Aber was dachte ich bei ſeinem wirklichen Ende, als Sie die „Frau Gemahlin“ grüßten; und hinzufügen: ſie werde Sie, ohnerachtet Sie ſich mit ihr nicht mehr in Briefen verſtändi- gen — ſo war ja wohl das Wort — können, nicht aufgege- ben haben. Ich verſtummte tief in mich hinein. Mein gan- zes inneres Leben wehte, wie mit abertauſend großen Flügeln, grau an mir vorüber: alles was ich je gedacht haben mochte: jedes Reſultat, was ich gefunden, flog namenlos an mir vor- bei. Alles wollte ich antworten; nichts kann ich antworten. Der ganze Triumphbrief, an dem ich gewiß Theil nehme, den Sie Varnh. geſchrieben, iſt mir zu nichts geworden: ich ſehe nur mich. Und habe, wie bei jedem ſchlagenden événement, gelernt. In mir, heißt das: eine neue Möglichkeit entdeckt. Ich wundre mich nämlich, daß noch irgend ein Menſch — außer mich zu ſtören, durch Ennui, Ärger, Ungeduld, in die er mich verſetzen kann — noch auf mich im Böſen wirken kann. Menſchen können mir gefallen, als Eindruck im Gan- zen; durch einzelne Eigenſchaften und Züge; ich kann ſie be- mitleiden, ſie können mich empören. Aber mein Herz in gra- der Beziehung nicht mehr unglücklich machen; noch es für mich beſchäftigen. Liebt mich: liebt mich nicht. Findet das, weßwegen ich mich lieben könnte; oder findet es nicht. So auch ſtanden Sie mir. Sie hatten mir ja ſelbſt geſchrieben, was ich heute in Varnhagens Brief las. Woher frappirte es mich ſo? frage ich. Sie frage ich nicht: mich frage ich. Weil ich in meiner tiefſten Seele dachte: er hat dich doch verſtan- den; wenn er nur je deinen Brief noch Einmal lieſt; er muß jeden einzelnen Ausruf, jeden Satz, jeden Ausdruck verſtehn; und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/360
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/360>, abgerufen am 22.12.2024.