Theure Gräfin! Sichere Freundin. Die Lebenswellen schlei- chen, laufen, stürmen, wallen vorüber, und sitzen die Freunde nicht in einem und demselben Schiffe, nicht an demselben Ufer, so bleibt es vergeblich, jene für einander auffangen zu wollen; erhascht sind sie todt, einzeln, ohne Strom, ohne Be- deutung, Leben oder Beziehung. Darum ist Trennung so hart: weil für die am meisten Gewitzigten dann auch, wie für andere, die Mittheilung starrt: nur dieser große Gewinn bleibt ihnen, daß der Lebensstrom in einem jeden von ihnen dieselben Tiefen durcharbeitet hat, wenn sie sich wiedersehen; und noch einen Vortheil müssen wir uns nicht entschlüpfen lassen! Diesen nämlich, wenn uns ein wirklich geistiger Fund entgegenschwimmt, daß wir ihn nicht in Stumm- heit für uns allein fischen, sondern unvergessen und gleich ihn den Geistesverwandten zuschiffen. In dieser ununterbrochenen Gesinnung schicke ich Ihnen, geehrte Freundin, beikommendes Büchlein: Angelus Silesius. Ein Schatz von Gedanken, Klei- node erhabenen Stolzes, der mich, bis zum Lächlen erfreut; gedachte, und daher einzig wahre Demuth; einzig wahre Re- ligion, da es Fragen an Gott sind; getrostes Verzweifeln; Unschuld in höchster Kraft bewahrt! Dies alles in bereiter, gebildeter, glücklicher Sprache, die ihr Bestes und alles dem Gedanken verdankt, und nicht wie ein Kleid des Gedankens, sondern wie dessen lebendige aus ihm erwachsene Behautung
An Karoline Gräfin von Schlabrendorf, in Dresden.
Berlin, Sonnabend den 22. Juli 1820.
Theure Gräfin! Sichere Freundin. Die Lebenswellen ſchlei- chen, laufen, ſtürmen, wallen vorüber, und ſitzen die Freunde nicht in einem und demſelben Schiffe, nicht an demſelben Ufer, ſo bleibt es vergeblich, jene für einander auffangen zu wollen; erhaſcht ſind ſie todt, einzeln, ohne Strom, ohne Be- deutung, Leben oder Beziehung. Darum iſt Trennung ſo hart: weil für die am meiſten Gewitzigten dann auch, wie für andere, die Mittheilung ſtarrt: nur dieſer große Gewinn bleibt ihnen, daß der Lebensſtrom in einem jeden von ihnen dieſelben Tiefen durcharbeitet hat, wenn ſie ſich wiederſehen; und noch einen Vortheil müſſen wir uns nicht entſchlüpfen laſſen! Dieſen nämlich, wenn uns ein wirklich geiſtiger Fund entgegenſchwimmt, daß wir ihn nicht in Stumm- heit für uns allein fiſchen, ſondern unvergeſſen und gleich ihn den Geiſtesverwandten zuſchiffen. In dieſer ununterbrochenen Geſinnung ſchicke ich Ihnen, geehrte Freundin, beikommendes Büchlein: Angelus Sileſius. Ein Schatz von Gedanken, Klei- node erhabenen Stolzes, der mich, bis zum Lächlen erfreut; gedachte, und daher einzig wahre Demuth; einzig wahre Re- ligion, da es Fragen an Gott ſind; getroſtes Verzweifeln; Unſchuld in höchſter Kraft bewahrt! Dies alles in bereiter, gebildeter, glücklicher Sprache, die ihr Beſtes und alles dem Gedanken verdankt, und nicht wie ein Kleid des Gedankens, ſondern wie deſſen lebendige aus ihm erwachſene Behautung
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[28/0036]
An Karoline Gräfin von Schlabrendorf, in Dresden.
Berlin, Sonnabend den 22. Juli 1820.
Theure Gräfin! Sichere Freundin. Die Lebenswellen ſchlei-
chen, laufen, ſtürmen, wallen vorüber, und ſitzen die Freunde
nicht in einem und demſelben Schiffe, nicht an demſelben
Ufer, ſo bleibt es vergeblich, jene für einander auffangen zu
wollen; erhaſcht ſind ſie todt, einzeln, ohne Strom, ohne Be-
deutung, Leben oder Beziehung. Darum iſt Trennung ſo
hart: weil für die am meiſten Gewitzigten dann auch,
wie für andere, die Mittheilung ſtarrt: nur dieſer große
Gewinn bleibt ihnen, daß der Lebensſtrom in einem jeden von
ihnen dieſelben Tiefen durcharbeitet hat, wenn ſie ſich
wiederſehen; und noch einen Vortheil müſſen wir uns nicht
entſchlüpfen laſſen! Dieſen nämlich, wenn uns ein wirklich
geiſtiger Fund entgegenſchwimmt, daß wir ihn nicht in Stumm-
heit für uns allein fiſchen, ſondern unvergeſſen und gleich ihn
den Geiſtesverwandten zuſchiffen. In dieſer ununterbrochenen
Geſinnung ſchicke ich Ihnen, geehrte Freundin, beikommendes
Büchlein: Angelus Sileſius. Ein Schatz von Gedanken, Klei-
node erhabenen Stolzes, der mich, bis zum Lächlen erfreut;
gedachte, und daher einzig wahre Demuth; einzig wahre Re-
ligion, da es Fragen an Gott ſind; getroſtes Verzweifeln;
Unſchuld in höchſter Kraft bewahrt! Dies alles in bereiter,
gebildeter, glücklicher Sprache, die ihr Beſtes und alles dem
Gedanken verdankt, und nicht wie ein Kleid des Gedankens,
ſondern wie deſſen lebendige aus ihm erwachſene Behautung
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/36>, abgerufen am 24.11.2024.
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