Alles ist zu verstehn, und zu verzeihen, nur Bosheit nicht; sie ist das Gift in dem Gebiete der Moral; sich selbst aufhe- bend und zerstörend; nicht zum Erkennen. Gehört auch ge- wiß einer Welt an, von der wir gar nichts wissen, mit der wir in gar keiner Gemeinschaft sein können. Es bestehn ge- wiß Organisationen ganz im Großen, die noch nicht zusam- men-organisirt sind. Allmählige, richtige Übergänge in or- ganisirte -- bereitete -- Zustände, ist Glück; das Gegentheil Leid für den Geist, für die Seele.
Sonntag, den 24. Mai 1827.
Man spricht nur so viel, weil Reden nicht hilft! -- Sprechen wirkt langsam, wie ein Geist in dem Chaos; bis er auf einen andern Geist wirken kann. Novalis sagt: "Nur Geister können gezwungen werden." Einer der tiefgegriffen- sten Aussprüche, weitumfassendsten, kinderreichsten.
Den 30. Juni 1827.
-- Keine Schechner, keine Heinefetter hab' ich gehört: wohl aber einen Halbgott von neapolitanischem Tänzer ge- sehen; Samengo. Der wie ein Merkur herab zu fliegen scheint, wie der sich etwa in Öde und Stille eine Nymphe hascht. Er flattert mit den Beinen und Füßen; bei ihm lernt man verstehen, was das Drehen bedeutet. Ein Erden- fliegen aus Freude der Überkräfte, des Wohlseins. Welch Biegen bei dem Drehen! Welcher Wuchs aus den Schul- tern! Wie verliebt, wie rücksichtvoll gegen seine Partnerin; wie stolz auf sie, wie neckend! Verhältnisse, Zustände werden
Alles iſt zu verſtehn, und zu verzeihen, nur Bosheit nicht; ſie iſt das Gift in dem Gebiete der Moral; ſich ſelbſt aufhe- bend und zerſtörend; nicht zum Erkennen. Gehört auch ge- wiß einer Welt an, von der wir gar nichts wiſſen, mit der wir in gar keiner Gemeinſchaft ſein können. Es beſtehn ge- wiß Organiſationen ganz im Großen, die noch nicht zuſam- men-organiſirt ſind. Allmählige, richtige Übergänge in or- ganiſirte — bereitete — Zuſtände, iſt Glück; das Gegentheil Leid für den Geiſt, für die Seele.
Sonntag, den 24. Mai 1827.
Man ſpricht nur ſo viel, weil Reden nicht hilft! — Sprechen wirkt langſam, wie ein Geiſt in dem Chaos; bis er auf einen andern Geiſt wirken kann. Novalis ſagt: „Nur Geiſter können gezwungen werden.“ Einer der tiefgegriffen- ſten Ausſprüche, weitumfaſſendſten, kinderreichſten.
Den 30. Juni 1827.
— Keine Schechner, keine Heinefetter hab’ ich gehört: wohl aber einen Halbgott von neapolitaniſchem Tänzer ge- ſehen; Samengo. Der wie ein Merkur herab zu fliegen ſcheint, wie der ſich etwa in Öde und Stille eine Nymphe haſcht. Er flattert mit den Beinen und Füßen; bei ihm lernt man verſtehen, was das Drehen bedeutet. Ein Erden- fliegen aus Freude der Überkräfte, des Wohlſeins. Welch Biegen bei dem Drehen! Welcher Wuchs aus den Schul- tern! Wie verliebt, wie rückſichtvoll gegen ſeine Partnerin; wie ſtolz auf ſie, wie neckend! Verhältniſſe, Zuſtände werden
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Alles iſt zu verſtehn, und zu verzeihen, nur Bosheit nicht;
ſie iſt das Gift in dem Gebiete der Moral; ſich ſelbſt aufhe-
bend und zerſtörend; nicht zum Erkennen. Gehört auch ge-
wiß einer Welt an, von der wir gar nichts wiſſen, mit der
wir in gar keiner Gemeinſchaft ſein können. Es beſtehn ge-
wiß Organiſationen ganz im Großen, die noch nicht zuſam-
men-organiſirt ſind. Allmählige, richtige Übergänge in or-
ganiſirte — bereitete — Zuſtände, iſt Glück; das Gegentheil
Leid für den Geiſt, für die Seele.
Sonntag, den 24. Mai 1827.
Man ſpricht nur ſo viel, weil Reden nicht hilft! —
Sprechen wirkt langſam, wie ein Geiſt in dem Chaos; bis
er auf einen andern Geiſt wirken kann. Novalis ſagt: „Nur
Geiſter können gezwungen werden.“ Einer der tiefgegriffen-
ſten Ausſprüche, weitumfaſſendſten, kinderreichſten.
Den 30. Juni 1827.
— Keine Schechner, keine Heinefetter hab’ ich gehört:
wohl aber einen Halbgott von neapolitaniſchem Tänzer ge-
ſehen; Samengo. Der wie ein Merkur herab zu fliegen
ſcheint, wie der ſich etwa in Öde und Stille eine Nymphe
haſcht. Er flattert mit den Beinen und Füßen; bei ihm
lernt man verſtehen, was das Drehen bedeutet. Ein Erden-
fliegen aus Freude der Überkräfte, des Wohlſeins. Welch
Biegen bei dem Drehen! Welcher Wuchs aus den Schul-
tern! Wie verliebt, wie rückſichtvoll gegen ſeine Partnerin;
wie ſtolz auf ſie, wie neckend! Verhältniſſe, Zuſtände werden
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 274. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/282>, abgerufen am 26.11.2024.
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