mit uns einigen wollen; die sind schon die Glücklichen, die Begünstigten, die solche Masse nur erkennen: machen Sie sich diesen Vortheil ganz zu Nutze! Umgehn, umfliegen Sie sie; gehn Sie nie heran, als an ein schon verarbeitetes belebtes Glied, welches mit dem Herzenskern in lebendiger Verbindung steht, sie umarmen zu wollen; wobei nur das harte Anstoßen die richtige Strafe des Irrthums, des Selbst- schmeichelns, zu gewinnen steht. Verzeihen, verzeihen Sie verehrter Freund, daß ich Sie belehren will! -- --
Sonntag, den 8. März 1827.
Alle andere Bewunderte sagen freilich auch Wahrheiten; aber Goethe giebt Wahrheit; ein Ganzes, einen Grund ha- bendes Zusammenhängendes durch die Wahrheiten, die er sagt. Bei Jean Pauls Titan. Bei Jakobi's und Wielands Briefen.
1827.
Vernunft ist das Vermögen -- oder besser ausgedrückt -- die Regel in unserm Geiste, nach welcher wir jedesmal von neuem die Regel zum Verstehen erfinden können. --
Das ist nun so zu verstehen: Vernunft ist eine Regel in uns, nicht die wir machen, wir besitzen sie nur leidend, wir finden sie in uns vor; wir gebrauchen sie nur thätig, als Maß. Sie ist außerpersönlich, sie ist ein Mitgift in uns, die uns antwortet. Die Vernunft antwortet uns z. B. auf die Frage: Was sollen wir auf unverständliche Dinge, als etwa zu einem Wunder, sagen? Da antwortet die Vernunft: Es muß eine mir unbekannte Regel geben, nach der auch die-
ses
mit uns einigen wollen; die ſind ſchon die Glücklichen, die Begünſtigten, die ſolche Maſſe nur erkennen: machen Sie ſich dieſen Vortheil ganz zu Nutze! Umgehn, umfliegen Sie ſie; gehn Sie nie heran, als an ein ſchon verarbeitetes belebtes Glied, welches mit dem Herzenskern in lebendiger Verbindung ſteht, ſie umarmen zu wollen; wobei nur das harte Anſtoßen die richtige Strafe des Irrthums, des Selbſt- ſchmeichelns, zu gewinnen ſteht. Verzeihen, verzeihen Sie verehrter Freund, daß ich Sie belehren will! — —
Sonntag, den 8. März 1827.
Alle andere Bewunderte ſagen freilich auch Wahrheiten; aber Goethe giebt Wahrheit; ein Ganzes, einen Grund ha- bendes Zuſammenhängendes durch die Wahrheiten, die er ſagt. Bei Jean Pauls Titan. Bei Jakobi’s und Wielands Briefen.
1827.
Vernunft iſt das Vermögen — oder beſſer ausgedrückt — die Regel in unſerm Geiſte, nach welcher wir jedesmal von neuem die Regel zum Verſtehen erfinden können. —
Das iſt nun ſo zu verſtehen: Vernunft iſt eine Regel in uns, nicht die wir machen, wir beſitzen ſie nur leidend, wir finden ſie in uns vor; wir gebrauchen ſie nur thätig, als Maß. Sie iſt außerperſönlich, ſie iſt ein Mitgift in uns, die uns antwortet. Die Vernunft antwortet uns z. B. auf die Frage: Was ſollen wir auf unverſtändliche Dinge, als etwa zu einem Wunder, ſagen? Da antwortet die Vernunft: Es muß eine mir unbekannte Regel geben, nach der auch die-
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mit uns einigen wollen; die ſind ſchon die Glücklichen, die
Begünſtigten, die ſolche Maſſe nur erkennen: machen Sie
ſich dieſen Vortheil ganz zu Nutze! Umgehn, umfliegen
Sie ſie; gehn Sie nie heran, als an ein ſchon verarbeitetes
belebtes Glied, welches mit dem Herzenskern in lebendiger
Verbindung ſteht, ſie umarmen zu wollen; wobei nur das
harte Anſtoßen die richtige Strafe des Irrthums, des Selbſt-
ſchmeichelns, zu gewinnen ſteht. Verzeihen, verzeihen Sie
verehrter Freund, daß ich Sie belehren will! — —
Sonntag, den 8. März 1827.
Alle andere Bewunderte ſagen freilich auch Wahrheiten;
aber Goethe giebt Wahrheit; ein Ganzes, einen Grund ha-
bendes Zuſammenhängendes durch die Wahrheiten, die er ſagt.
Bei Jean Pauls Titan. Bei Jakobi’s und Wielands Briefen.
1827.
Vernunft iſt das Vermögen — oder beſſer ausgedrückt —
die Regel in unſerm Geiſte, nach welcher wir jedesmal von
neuem die Regel zum Verſtehen erfinden können. —
Das iſt nun ſo zu verſtehen: Vernunft iſt eine Regel in
uns, nicht die wir machen, wir beſitzen ſie nur leidend, wir
finden ſie in uns vor; wir gebrauchen ſie nur thätig, als
Maß. Sie iſt außerperſönlich, ſie iſt ein Mitgift in uns,
die uns antwortet. Die Vernunft antwortet uns z. B. auf
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/280>, abgerufen am 25.11.2024.
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