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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

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Bedänkens nichts mehr über sie sagen, als was Sie schon im
Herbste schrieben: "Beide Parthien -- aus zweien besteht sie
einmal -- sagen nicht, was sie eigentlich wollen." Sie nann-
ten auch dabei, was sie wollen; ich setze hinzu: und sie be-
trügen sich nicht mehr einer den andern: und diesen Punkt
Zeit halte ich für eine Reife, die uns jeden Augenblick eine
unbekannte Frucht aus der Schalendecke kann hervorbrechen
lassen, welche die eine Hälfte der Leute als süß, die andere
wird als bitter verzehren müssen. Es muß eine neue Erfin-
dung gemacht werden! Die alten sind verbraucht. Priester,
Regierungen, waren sonst ihrer Zeit vor; brachten Gesetze von
Bergen, aus Wolken, von nicht bekannten Ländern; diese
Gesetze sind durchdemonstrirt; jeder Miethwohner des Erden-
rundes weiß ihren Grund, oder wenigstens, er ist ihm zu
Ohren gekommen: nun will keiner sie mehr als einseitiges
Gebot halten, sondern sie machen helfen: und eine gesetzliche
Weise in diesen Zustand zu bringen, wird allein noch gar
nicht helfen. -- Es ist noch Phantasie im Menschen übrig
für idealische Zustände, und die will Stoff, Nahrung. Alle
gemeinscheinende Ansprüche gründen sich darauf; weil sie auch
von denen, die sie machen, nicht verstanden werden; und diese
sich in Mittel und Stoff vergreifen. Darum denk' ich mir
einen Gesetzgeber, einen Regenten jetzt als einen solchen, der
eine hohe, allgemeingültige Ansicht des Lebens zu erfinden
wüßte. Etwa ein neues religiöses Element, welches die Sitt-
lichkeit schärfer zu verstehen gäbe, allen gebotenen Handlungen
eine andere Richtung, einen neuen Ehrgeiz. -- Aber aller
Menschen Geist, der Zufall, die Zeit, Gott wird so etwas

Bedänkens nichts mehr über ſie ſagen, als was Sie ſchon im
Herbſte ſchrieben: „Beide Parthien — aus zweien beſteht ſie
einmal — ſagen nicht, was ſie eigentlich wollen.“ Sie nann-
ten auch dabei, was ſie wollen; ich ſetze hinzu: und ſie be-
trügen ſich nicht mehr einer den andern: und dieſen Punkt
Zeit halte ich für eine Reife, die uns jeden Augenblick eine
unbekannte Frucht aus der Schalendecke kann hervorbrechen
laſſen, welche die eine Hälfte der Leute als ſüß, die andere
wird als bitter verzehren müſſen. Es muß eine neue Erfin-
dung gemacht werden! Die alten ſind verbraucht. Prieſter,
Regierungen, waren ſonſt ihrer Zeit vor; brachten Geſetze von
Bergen, aus Wolken, von nicht bekannten Ländern; dieſe
Geſetze ſind durchdemonſtrirt; jeder Miethwohner des Erden-
rundes weiß ihren Grund, oder wenigſtens, er iſt ihm zu
Ohren gekommen: nun will keiner ſie mehr als einſeitiges
Gebot halten, ſondern ſie machen helfen: und eine geſetzliche
Weiſe in dieſen Zuſtand zu bringen, wird allein noch gar
nicht helfen. — Es iſt noch Phantaſie im Menſchen übrig
für idealiſche Zuſtände, und die will Stoff, Nahrung. Alle
gemeinſcheinende Anſprüche gründen ſich darauf; weil ſie auch
von denen, die ſie machen, nicht verſtanden werden; und dieſe
ſich in Mittel und Stoff vergreifen. Darum denk’ ich mir
einen Geſetzgeber, einen Regenten jetzt als einen ſolchen, der
eine hohe, allgemeingültige Anſicht des Lebens zu erfinden
wüßte. Etwa ein neues religiöſes Element, welches die Sitt-
lichkeit ſchärfer zu verſtehen gäbe, allen gebotenen Handlungen
eine andere Richtung, einen neuen Ehrgeiz. — Aber aller
Menſchen Geiſt, der Zufall, die Zeit, Gott wird ſo etwas

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[20/0028] Bedänkens nichts mehr über ſie ſagen, als was Sie ſchon im Herbſte ſchrieben: „Beide Parthien — aus zweien beſteht ſie einmal — ſagen nicht, was ſie eigentlich wollen.“ Sie nann- ten auch dabei, was ſie wollen; ich ſetze hinzu: und ſie be- trügen ſich nicht mehr einer den andern: und dieſen Punkt Zeit halte ich für eine Reife, die uns jeden Augenblick eine unbekannte Frucht aus der Schalendecke kann hervorbrechen laſſen, welche die eine Hälfte der Leute als ſüß, die andere wird als bitter verzehren müſſen. Es muß eine neue Erfin- dung gemacht werden! Die alten ſind verbraucht. Prieſter, Regierungen, waren ſonſt ihrer Zeit vor; brachten Geſetze von Bergen, aus Wolken, von nicht bekannten Ländern; dieſe Geſetze ſind durchdemonſtrirt; jeder Miethwohner des Erden- rundes weiß ihren Grund, oder wenigſtens, er iſt ihm zu Ohren gekommen: nun will keiner ſie mehr als einſeitiges Gebot halten, ſondern ſie machen helfen: und eine geſetzliche Weiſe in dieſen Zuſtand zu bringen, wird allein noch gar nicht helfen. — Es iſt noch Phantaſie im Menſchen übrig für idealiſche Zuſtände, und die will Stoff, Nahrung. Alle gemeinſcheinende Anſprüche gründen ſich darauf; weil ſie auch von denen, die ſie machen, nicht verſtanden werden; und dieſe ſich in Mittel und Stoff vergreifen. Darum denk’ ich mir einen Geſetzgeber, einen Regenten jetzt als einen ſolchen, der eine hohe, allgemeingültige Anſicht des Lebens zu erfinden wüßte. Etwa ein neues religiöſes Element, welches die Sitt- lichkeit ſchärfer zu verſtehen gäbe, allen gebotenen Handlungen eine andere Richtung, einen neuen Ehrgeiz. — Aber aller Menſchen Geiſt, der Zufall, die Zeit, Gott wird ſo etwas

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/28>, abgerufen am 24.11.2024.