ich auch so eingenommen; ich sah sein Werk in Magdeburg und das in Wittenberg: aber diese großen haben mich nicht so in die Seele gefreut, als ein Basrelief hinter dem Altar, in einem schmalen doch hellen Gang der Hauptkirche im letz- tern Ort. Gott und Christus krönen die Muttergottes. Die Wahrhaftigkeit, die Reinheit, das Menschliche da hineinge- bracht! Man möchte sagen, in Mensch übersetzt. Andere Übernatürlichkeit erkenne ich auch gar nicht an: denn sie ist gelogen. Gelogen bis zur neuen Existenz. Wenn die Künst- ler etwa mit dem hier zu leistenden Menschlichen nicht be- gnügt sein wollen, so müssen sie bis zu einer neuen Zeit lü- gen. Entweder: das eleganteste Menschendasein ausgedrückt, wie der Grieche: oder, ergebene, verständige Unschuld, wie diese Deutschen! Alles andere sind Nüancen, Stufen, Mittel- bildungen, Irrthümerchen, kleine Nationalkostüme der Seelen- regimenter (des ames enregimentees, daß Sie mich verstehen!) Adieu bis morgen! -- Nun ist morgen, Sonnabend. Trüb- lich graues, feuchtlich wärmliches Wetter, 10 Uhr morgens. Aber wie habe ich geweint! Dienstag wurde Goethens An- kunfts-Jubiläum in Weimar, von Hof, Land und Stadt -- wahrhaft gefeiert. Das las ich heute ausführlich in der Spe- ner'schen -- thun Sie das ja auch -- und alle Schleusen meines gelebten Lebens öffneten sich, sprangen auf; alle Ehr- furcht in mir stand unterm Gewehr, alles was Dank in mir sein kann: gegen Gott, Fürsten, Erkenner, Menschenfortschritt, Gutes auf Erden, Freude seines Gedeihens, Freude über Ein- sicht in mir alles dessen, und über meine Nationalität, -- die nur so mir ersetzt werden kann, -- über mein Uremigran-
ich auch ſo eingenommen; ich ſah ſein Werk in Magdeburg und das in Wittenberg: aber dieſe großen haben mich nicht ſo in die Seele gefreut, als ein Basrelief hinter dem Altar, in einem ſchmalen doch hellen Gang der Hauptkirche im letz- tern Ort. Gott und Chriſtus krönen die Muttergottes. Die Wahrhaftigkeit, die Reinheit, das Menſchliche da hineinge- bracht! Man möchte ſagen, in Menſch überſetzt. Andere Übernatürlichkeit erkenne ich auch gar nicht an: denn ſie iſt gelogen. Gelogen bis zur neuen Exiſtenz. Wenn die Künſt- ler etwa mit dem hier zu leiſtenden Menſchlichen nicht be- gnügt ſein wollen, ſo müſſen ſie bis zu einer neuen Zeit lü- gen. Entweder: das eleganteſte Menſchendaſein ausgedrückt, wie der Grieche: oder, ergebene, verſtändige Unſchuld, wie dieſe Deutſchen! Alles andere ſind Nüancen, Stufen, Mittel- bildungen, Irrthümerchen, kleine Nationalkoſtüme der Seelen- regimenter (des âmes enrégimentées, daß Sie mich verſtehen!) Adieu bis morgen! — Nun iſt morgen, Sonnabend. Trüb- lich graues, feuchtlich wärmliches Wetter, 10 Uhr morgens. Aber wie habe ich geweint! Dienstag wurde Goethens An- kunfts-Jubiläum in Weimar, von Hof, Land und Stadt — wahrhaft gefeiert. Das las ich heute ausführlich in der Spe- ner’ſchen — thun Sie das ja auch — und alle Schleuſen meines gelebten Lebens öffneten ſich, ſprangen auf; alle Ehr- furcht in mir ſtand unterm Gewehr, alles was Dank in mir ſein kann: gegen Gott, Fürſten, Erkenner, Menſchenfortſchritt, Gutes auf Erden, Freude ſeines Gedeihens, Freude über Ein- ſicht in mir alles deſſen, und über meine Nationalität, — die nur ſo mir erſetzt werden kann, — über mein Uremigran-
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ich auch ſo eingenommen; ich ſah ſein Werk in Magdeburg
und das in Wittenberg: aber dieſe großen haben mich nicht
ſo in die Seele gefreut, als ein Basrelief hinter dem Altar,
in einem ſchmalen doch hellen Gang der Hauptkirche im letz-
tern Ort. Gott und Chriſtus krönen die Muttergottes. Die
Wahrhaftigkeit, die Reinheit, das Menſchliche da hineinge-
bracht! Man möchte ſagen, in Menſch überſetzt. Andere
Übernatürlichkeit erkenne ich auch gar nicht an: denn ſie iſt
gelogen. Gelogen bis zur neuen Exiſtenz. Wenn die Künſt-
ler etwa mit dem hier zu leiſtenden Menſchlichen nicht be-
gnügt ſein wollen, ſo müſſen ſie bis zu einer neuen Zeit lü-
gen. Entweder: das eleganteſte Menſchendaſein ausgedrückt,
wie der Grieche: oder, ergebene, verſtändige Unſchuld, wie
dieſe Deutſchen! Alles andere ſind Nüancen, Stufen, Mittel-
bildungen, Irrthümerchen, kleine Nationalkoſtüme der Seelen-
regimenter (des âmes enrégimentées, daß Sie mich verſtehen!)
Adieu bis morgen! — Nun iſt morgen, Sonnabend. Trüb-
lich graues, feuchtlich wärmliches Wetter, 10 Uhr morgens.
Aber wie habe ich geweint! Dienstag wurde Goethens An-
kunfts-Jubiläum in Weimar, von Hof, Land und Stadt —
wahrhaft gefeiert. Das las ich heute ausführlich in der Spe-
ner’ſchen — thun Sie das ja auch — und alle Schleuſen
meines gelebten Lebens öffneten ſich, ſprangen auf; alle Ehr-
furcht in mir ſtand unterm Gewehr, alles was Dank in mir
ſein kann: gegen Gott, Fürſten, Erkenner, Menſchenfortſchritt,
Gutes auf Erden, Freude ſeines Gedeihens, Freude über Ein-
ſicht in mir alles deſſen, und über meine Nationalität, —
die nur ſo mir erſetzt werden kann, — über mein Uremigran-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/240>, abgerufen am 22.11.2024.
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