hört, und es bemerkt haben. Man kann den Ton weit aus- schicken, ohne zu schreien: wie die Farben klumpenweise für die Ferne auftragen. Wenn Gluck nur Einmal solche Oper aufführen könnte! schon in Paris, durch Tradition im Orche- ster, hört man wie es Gluck gemeint hat. Es ist noch viel zu sagen. Neulich sagte ich zu Koreff, alle Kunst müsse einer Nation natürlich sein: d. h. in den untern Volksklassen ent- stehen: sonst vagirt sie, hat keinen Boden, wird Krittelei, wenn sie vorher noch glücklich Nachahmung war. Erst gestern, als Goethische Lieder ohne Begleitung gesungen wurden, drang sich mir von neuem auf, daß es nur verbesserter Wachtstuben- und Handwerksburschen-Gesang im Wandern war. Hier ha- ben wir keinen andern Volksgesang. Nun giebt's noch Sol- datenlieder aus dem Krieg. Alles andere Singen, auf den Theatern, ist bald italiänisch, bald halb dieser Gesang, halb jener bezeichnete, auf Gluck, Mozart u. s. w. angewandt: und meistens schon damit angefangen, die Singorgane ganz miß- zuverstehen. Dabei ein unendlicher Dünkel; auf dünkel- haften sogenannten Patriotismus gepflanzt. Man findet hier mehr schöne Stimmen, als man nur irgend vermuthen sollte; aber gleich werden sie verdorben: in die Kehle hineingezwun- gen, die Brusttöne bis zur Vernichtung forcirt, gequetscht, gekälbert. Leidenschaft besteht nur in Forte und Piano; Piano, in Dehnen, etcetera! --
Freitag, den 26. Februar 1820.
War ich unpaß zu Hause; erst im Frühabend von G. gestört; dann kam Franz Ml.: und war so stumm, so uner-
reg-
hört, und es bemerkt haben. Man kann den Ton weit aus- ſchicken, ohne zu ſchreien: wie die Farben klumpenweiſe für die Ferne auftragen. Wenn Gluck nur Einmal ſolche Oper aufführen könnte! ſchon in Paris, durch Tradition im Orche- ſter, hört man wie es Gluck gemeint hat. Es iſt noch viel zu ſagen. Neulich ſagte ich zu Koreff, alle Kunſt müſſe einer Nation natürlich ſein: d. h. in den untern Volksklaſſen ent- ſtehen: ſonſt vagirt ſie, hat keinen Boden, wird Krittelei, wenn ſie vorher noch glücklich Nachahmung war. Erſt geſtern, als Goethiſche Lieder ohne Begleitung geſungen wurden, drang ſich mir von neuem auf, daß es nur verbeſſerter Wachtſtuben- und Handwerksburſchen-Geſang im Wandern war. Hier ha- ben wir keinen andern Volksgeſang. Nun giebt’s noch Sol- datenlieder aus dem Krieg. Alles andere Singen, auf den Theatern, iſt bald italiäniſch, bald halb dieſer Geſang, halb jener bezeichnete, auf Gluck, Mozart u. ſ. w. angewandt: und meiſtens ſchon damit angefangen, die Singorgane ganz miß- zuverſtehen. Dabei ein unendlicher Dünkel; auf dünkel- haften ſogenannten Patriotismus gepflanzt. Man findet hier mehr ſchöne Stimmen, als man nur irgend vermuthen ſollte; aber gleich werden ſie verdorben: in die Kehle hineingezwun- gen, die Bruſttöne bis zur Vernichtung forcirt, gequetſcht, gekälbert. Leidenſchaft beſteht nur in Forte und Piano; Piano, in Dehnen, etcetera! —
Freitag, den 26. Februar 1820.
War ich unpaß zu Hauſe; erſt im Frühabend von G. geſtört; dann kam Franz Ml.: und war ſo ſtumm, ſo uner-
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hört, und es bemerkt haben. Man kann den Ton weit aus-
ſchicken, ohne zu ſchreien: wie die Farben klumpenweiſe für
die Ferne auftragen. Wenn Gluck nur Einmal ſolche Oper
aufführen könnte! ſchon in Paris, durch Tradition im Orche-
ſter, hört man wie es Gluck gemeint hat. Es iſt noch viel
zu ſagen. Neulich ſagte ich zu Koreff, alle Kunſt müſſe einer
Nation natürlich ſein: d. h. in den untern Volksklaſſen ent-
ſtehen: ſonſt vagirt ſie, hat keinen Boden, wird Krittelei, wenn
ſie vorher noch glücklich Nachahmung war. Erſt geſtern, als
Goethiſche Lieder ohne Begleitung geſungen wurden, drang
ſich mir von neuem auf, daß es nur verbeſſerter Wachtſtuben-
und Handwerksburſchen-Geſang im Wandern war. Hier ha-
ben wir keinen andern Volksgeſang. Nun giebt’s noch Sol-
datenlieder aus dem Krieg. Alles andere Singen, auf den
Theatern, iſt bald italiäniſch, bald halb dieſer Geſang, halb
jener bezeichnete, auf Gluck, Mozart u. ſ. w. angewandt: und
meiſtens ſchon damit angefangen, die Singorgane ganz miß-
zuverſtehen. Dabei ein unendlicher Dünkel; auf dünkel-
haften ſogenannten Patriotismus gepflanzt. Man findet hier
mehr ſchöne Stimmen, als man nur irgend vermuthen ſollte;
aber gleich werden ſie verdorben: in die Kehle hineingezwun-
gen, die Bruſttöne bis zur Vernichtung forcirt, gequetſcht,
gekälbert. Leidenſchaft beſteht nur in Forte und Piano; Piano,
in Dehnen, etcetera! —
Freitag, den 26. Februar 1820.
War ich unpaß zu Hauſe; erſt im Frühabend von G.
geſtört; dann kam Franz Ml.: und war ſo ſtumm, ſo uner-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/24>, abgerufen am 24.11.2024.
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