und ohne allen sittlichen Grund und Kampf eigentlich! wie ein Wasserscheuer, dem man das Beißen verzeihen muß. Wie die Mutter zu der fausse couche gekommen, ist wieder ein anderes Plaisir. Tel est le bon plaisir -- von Hoffmann. Und vive l'auteur! schreit das deutsche Publikum. Nicht zum Verstehen. --
Sonnabend, den 19. Februar 1820.
Schneeliches Thauwetter. Vormittag.
Anstatt des Tagebuchs stehe lieber Folgendes hier: nur dies noch! Vorgestern hatte ich einen Thee: der alle meine Gedanken über Gesellschaften, und Ausgaben und Einrichtun- gen, und übelgebaute Häuser, Lügen, Langeweile etc. wieder an- regte, und sie mir immer ausführlicher macht. Gestern wieder mit Körte's bei Stägemann. Auch sah ich Alceste; auch nur stär- kere Bestätigung alles Alten über unser Berliner Theater. Schlechte Plätze. Kreischendes Orchester. Fürchterliche Tanz- kunst, wo die Tänze nicht einmal zu der Musik gehen wol- len; ohne Sinn, ohne Verstand, ohne Grazie, mit Seiltänzer- Mühe, ohne sie wie diese Tänzer unschuldig uns anzurechnen. Sänger vom Berliner Publikum gebildet. Das Publikum sich eine Art Beifall für Gluck auswendig gelernt, welchen zu wie- derholen es keineswegs unterläßt, aber doch endlich nur sehr lässig bezeigen kann: auch die Einzelnen in den Logen, Einer gegen den Andern. Stümer sehr gut gespielt; wird sich aber die Brust angreifen. Weber läßt die Blasinstrumente mit den Sängern in die Wette forciren. Töne in Fresko darzu- stellen, muß man von den großen italiänischen Sängern ge-
und ohne allen ſittlichen Grund und Kampf eigentlich! wie ein Waſſerſcheuer, dem man das Beißen verzeihen muß. Wie die Mutter zu der fausse couche gekommen, iſt wieder ein anderes Plaiſir. Tel est le bon plaisir — von Hoffmann. Und vive l’auteur! ſchreit das deutſche Publikum. Nicht zum Verſtehen. —
Sonnabend, den 19. Februar 1820.
Schneeliches Thauwetter. Vormittag.
Anſtatt des Tagebuchs ſtehe lieber Folgendes hier: nur dies noch! Vorgeſtern hatte ich einen Thee: der alle meine Gedanken über Geſellſchaften, und Ausgaben und Einrichtun- gen, und übelgebaute Häuſer, Lügen, Langeweile ꝛc. wieder an- regte, und ſie mir immer ausführlicher macht. Geſtern wieder mit Körte’s bei Stägemann. Auch ſah ich Alceſte; auch nur ſtär- kere Beſtätigung alles Alten über unſer Berliner Theater. Schlechte Plätze. Kreiſchendes Orcheſter. Fürchterliche Tanz- kunſt, wo die Tänze nicht einmal zu der Muſik gehen wol- len; ohne Sinn, ohne Verſtand, ohne Grazie, mit Seiltänzer- Mühe, ohne ſie wie dieſe Tänzer unſchuldig uns anzurechnen. Sänger vom Berliner Publikum gebildet. Das Publikum ſich eine Art Beifall für Gluck auswendig gelernt, welchen zu wie- derholen es keineswegs unterläßt, aber doch endlich nur ſehr läſſig bezeigen kann: auch die Einzelnen in den Logen, Einer gegen den Andern. Stümer ſehr gut geſpielt; wird ſich aber die Bruſt angreifen. Weber läßt die Blasinſtrumente mit den Sängern in die Wette forciren. Töne in Fresko darzu- ſtellen, muß man von den großen italiäniſchen Sängern ge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0023"n="15"/>
und ohne allen ſittlichen Grund und Kampf eigentlich! wie<lb/>
ein Waſſerſcheuer, dem man das Beißen verzeihen muß. Wie<lb/>
die Mutter zu der <hirendition="#aq">fausse couche</hi> gekommen, iſt wieder ein<lb/>
anderes Plaiſir. <hirendition="#aq">Tel est le bon plaisir</hi>— von Hoffmann.<lb/>
Und <hirendition="#aq">vive l’auteur!</hi>ſchreit das deutſche Publikum. Nicht zum<lb/>
Verſtehen. —</p></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="3"><dateline><hirendition="#et">Sonnabend, den 19. Februar 1820.</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#et">Schneeliches Thauwetter. Vormittag.</hi></p><lb/><p>Anſtatt des Tagebuchs ſtehe lieber Folgendes hier: nur<lb/>
dies noch! Vorgeſtern hatte ich einen Thee: der alle meine<lb/>
Gedanken über Geſellſchaften, und Ausgaben und Einrichtun-<lb/>
gen, und übelgebaute Häuſer, Lügen, Langeweile ꝛc. wieder an-<lb/>
regte, und ſie mir immer ausführlicher macht. Geſtern wieder<lb/>
mit Körte’s bei Stägemann. Auch ſah ich Alceſte; auch nur ſtär-<lb/>
kere Beſtätigung alles Alten über unſer Berliner Theater.<lb/>
Schlechte Plätze. Kreiſchendes Orcheſter. Fürchterliche Tanz-<lb/>
kunſt, wo die Tänze nicht einmal zu der Muſik gehen wol-<lb/>
len; ohne Sinn, ohne Verſtand, ohne Grazie, mit Seiltänzer-<lb/>
Mühe, ohne ſie wie dieſe Tänzer unſchuldig uns anzurechnen.<lb/>
Sänger vom Berliner Publikum gebildet. Das Publikum ſich<lb/>
eine Art Beifall für Gluck auswendig gelernt, welchen zu wie-<lb/>
derholen es keineswegs unterläßt, aber doch endlich nur ſehr<lb/>
läſſig bezeigen kann: auch die Einzelnen in den Logen, Einer<lb/>
gegen den Andern. Stümer ſehr gut geſpielt; wird ſich aber<lb/>
die Bruſt angreifen. Weber läßt die Blasinſtrumente mit<lb/>
den Sängern in die Wette forciren. Töne in Fresko darzu-<lb/>ſtellen, muß man von den großen italiäniſchen Sängern ge-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[15/0023]
und ohne allen ſittlichen Grund und Kampf eigentlich! wie
ein Waſſerſcheuer, dem man das Beißen verzeihen muß. Wie
die Mutter zu der fausse couche gekommen, iſt wieder ein
anderes Plaiſir. Tel est le bon plaisir — von Hoffmann.
Und vive l’auteur! ſchreit das deutſche Publikum. Nicht zum
Verſtehen. —
Sonnabend, den 19. Februar 1820.
Schneeliches Thauwetter. Vormittag.
Anſtatt des Tagebuchs ſtehe lieber Folgendes hier: nur
dies noch! Vorgeſtern hatte ich einen Thee: der alle meine
Gedanken über Geſellſchaften, und Ausgaben und Einrichtun-
gen, und übelgebaute Häuſer, Lügen, Langeweile ꝛc. wieder an-
regte, und ſie mir immer ausführlicher macht. Geſtern wieder
mit Körte’s bei Stägemann. Auch ſah ich Alceſte; auch nur ſtär-
kere Beſtätigung alles Alten über unſer Berliner Theater.
Schlechte Plätze. Kreiſchendes Orcheſter. Fürchterliche Tanz-
kunſt, wo die Tänze nicht einmal zu der Muſik gehen wol-
len; ohne Sinn, ohne Verſtand, ohne Grazie, mit Seiltänzer-
Mühe, ohne ſie wie dieſe Tänzer unſchuldig uns anzurechnen.
Sänger vom Berliner Publikum gebildet. Das Publikum ſich
eine Art Beifall für Gluck auswendig gelernt, welchen zu wie-
derholen es keineswegs unterläßt, aber doch endlich nur ſehr
läſſig bezeigen kann: auch die Einzelnen in den Logen, Einer
gegen den Andern. Stümer ſehr gut geſpielt; wird ſich aber
die Bruſt angreifen. Weber läßt die Blasinſtrumente mit
den Sängern in die Wette forciren. Töne in Fresko darzu-
ſtellen, muß man von den großen italiäniſchen Sängern ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/23>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.