alles sehenden Menschen bemerkt? und dergleichen hätte er anbringen müssen. Ein tiefes, endlich hervorbrechendes Gefühl und Einsicht für Recht, bei einem Vorfall, wo Andere lange matt schwatzten, und Hergebrachtes vertheidigen woll- ten; wo es aus alter Sitte unsittlich herging! He? Muß man sich einen Geschichtsbetrachter wie Shakespear nicht in seiner Jugend unter Bekannten so denken? Die Milde, die Ruhe, das Offne, und gewiß das Bescheidne, das von Un- schuld kommt, hätte er ihm lassen, und ihn ausdrücken lassen sollen. So ist die Novelle bis jetzt noch nichts; aber es sind so vortreffliche Stellen darin, besonders gegen das Ende, daß sie ganz von selbst rednerisch werden, was sonst bei mir ein schlechtes Lob ist, da ich keine Dialektik ohne Inhalt zugebe; weil jene keinen schaffen kann; was gewöhnlich angenommen wird, wogegen ich ein gewaffneter Feind bin! Die Dichter sprechen das, was ich meine: wenn auch unzeitig, so ist es doch an sich tief und vortrefflich. Das Ganze ist Tiecks alte Krankhaftigkeit; daß er die Welt nicht frisch in sich aufneh- men kann, und da er nun darstellen will, nur grübelt, wie Dichter und Litteratoren sie wohl gesehen haben; daher auch sein Ganz-sich-verlieren in Shakespear; und grübelt er wei- ter -- daß ihm so leicht das Wirkliche auch zu einer Vor- stellung wird, die er überspringen könnte, und so sich alsbald unter Gespenstern findet; die aber auch nicht die Gespenster- Realität haben, weil auch deren Dasein nur von ihm ab- hängt. Mir ist er deutlich. -- Börne ist mir auch, im besten Sinne, kein "Hoffmann;" sondern einer unserer vornehmsten
Geister,
alles ſehenden Menſchen bemerkt? und dergleichen hätte er anbringen müſſen. Ein tiefes, endlich hervorbrechendes Gefühl und Einſicht für Recht, bei einem Vorfall, wo Andere lange matt ſchwatzten, und Hergebrachtes vertheidigen woll- ten; wo es aus alter Sitte unſittlich herging! He? Muß man ſich einen Geſchichtsbetrachter wie Shakeſpear nicht in ſeiner Jugend unter Bekannten ſo denken? Die Milde, die Ruhe, das Offne, und gewiß das Beſcheidne, das von Un- ſchuld kommt, hätte er ihm laſſen, und ihn ausdrücken laſſen ſollen. So iſt die Novelle bis jetzt noch nichts; aber es ſind ſo vortreffliche Stellen darin, beſonders gegen das Ende, daß ſie ganz von ſelbſt redneriſch werden, was ſonſt bei mir ein ſchlechtes Lob iſt, da ich keine Dialektik ohne Inhalt zugebe; weil jene keinen ſchaffen kann; was gewöhnlich angenommen wird, wogegen ich ein gewaffneter Feind bin! Die Dichter ſprechen das, was ich meine: wenn auch unzeitig, ſo iſt es doch an ſich tief und vortrefflich. Das Ganze iſt Tiecks alte Krankhaftigkeit; daß er die Welt nicht friſch in ſich aufneh- men kann, und da er nun darſtellen will, nur grübelt, wie Dichter und Litteratoren ſie wohl geſehen haben; daher auch ſein Ganz-ſich-verlieren in Shakeſpear; und grübelt er wei- ter — daß ihm ſo leicht das Wirkliche auch zu einer Vor- ſtellung wird, die er überſpringen könnte, und ſo ſich alsbald unter Geſpenſtern findet; die aber auch nicht die Geſpenſter- Realität haben, weil auch deren Daſein nur von ihm ab- hängt. Mir iſt er deutlich. — Börne iſt mir auch, im beſten Sinne, kein „Hoffmann;“ ſondern einer unſerer vornehmſten
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alles ſehenden Menſchen bemerkt? und dergleichen hätte er
anbringen müſſen. Ein tiefes, endlich hervorbrechendes Gefühl
und Einſicht für Recht, bei einem Vorfall, wo Andere
lange matt ſchwatzten, und Hergebrachtes vertheidigen woll-
ten; wo es aus alter Sitte unſittlich herging! He? Muß
man ſich einen Geſchichtsbetrachter wie Shakeſpear nicht in
ſeiner Jugend unter Bekannten ſo denken? Die Milde, die
Ruhe, das Offne, und gewiß das Beſcheidne, das von Un-
ſchuld kommt, hätte er ihm laſſen, und ihn ausdrücken laſſen
ſollen. So iſt die Novelle bis jetzt noch nichts; aber es ſind
ſo vortreffliche Stellen darin, beſonders gegen das Ende, daß
ſie ganz von ſelbſt redneriſch werden, was ſonſt bei mir ein
ſchlechtes Lob iſt, da ich keine Dialektik ohne Inhalt zugebe;
weil jene keinen ſchaffen kann; was gewöhnlich angenommen
wird, wogegen ich ein gewaffneter Feind bin! Die Dichter
ſprechen das, was ich meine: wenn auch unzeitig, ſo iſt es
doch an ſich tief und vortrefflich. Das Ganze iſt Tiecks alte
Krankhaftigkeit; daß er die Welt nicht friſch in ſich aufneh-
men kann, und da er nun darſtellen will, nur grübelt, wie
Dichter und Litteratoren ſie wohl geſehen haben; daher auch
ſein Ganz-ſich-verlieren in Shakeſpear; und grübelt er wei-
ter — daß ihm ſo leicht das Wirkliche auch zu einer Vor-
ſtellung wird, die er überſpringen könnte, und ſo ſich alsbald
unter Geſpenſtern findet; die aber auch nicht die Geſpenſter-
Realität haben, weil auch deren Daſein nur von ihm ab-
hängt. Mir iſt er deutlich. — Börne iſt mir auch, im beſten
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/232>, abgerufen am 23.11.2024.
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