Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

frag' ich mich seit einem Jahre, wodurch bewirkt er dies; mit
so kärglichen Mitteln! Welche ungeheure Eingebung, welcher
tiefe, reife Witz läßt ihn immer neue einzige Kombinationen
für die wenigen Töne, für die sparsame Abweichung finden!
Ich begriff und begriff es nicht! besonders nicht, daß kein
Komponist, nicht einmal der metaphysische, gottesfürchtige,
mit höchstem Witz begabte Sebastian Bach mir diese ge-
waltsam-sanfte Versetzung und Erhebung unmittelbar bewirke
Ich hörte vor wenigen Wochen wieder die Makkabäer von
ihm und empfand das alles wieder durch, ohne Aufschluß.
Gestern Abend sang bei Fr. v. Redtel Fräulein Reichardt
eine Arie von ihm, (die du auch gehört hast und die man
mir durch deinen Beifall empfehlen wollte,) vortrefflich. Die-
ses Stück, ein Meisterstück von gehaltener, gelungener Vollen-
dung brachte mich auf die Spur, wie es mit Händel ist, und
ich danke es Fräulein Reichardt unendlich. Nämlich, es ist
diesmal wie mit uns Kreaturen immer, und wir irren über
uns selbst immer von neuem, weil wir uns nicht recht, in
allem Sinne recht -- betrachten. Witz: der Geist, den wir
haben, der wird nicht mehr, nicht minder, nicht stärker, nicht
schwächer. Nur ob wir ihn freilassen oder nicht; das ist die
Frage. Freilassen ist hier: in das Gebiet stellen, wo er wir-
ken soll: denn er wirkt stets. Händels Musik stellt uns in
das Gebiet höherer Wehmuth: sie weint, seine Musik, aber
les larmes de la charite. Nicht Leidenschaftsthränen über Zu-
stände hiesiger Lebensverhältnisse, sondern die großen Thrä-
nen der Kreatur überhaupt; die der unmittelbaren Sehnsucht
nach einem Urzustand; er führt uns in die Gefilde der Erge-

frag’ ich mich ſeit einem Jahre, wodurch bewirkt er dies; mit
ſo kärglichen Mitteln! Welche ungeheure Eingebung, welcher
tiefe, reife Witz läßt ihn immer neue einzige Kombinationen
für die wenigen Töne, für die ſparſame Abweichung finden!
Ich begriff und begriff es nicht! beſonders nicht, daß kein
Komponiſt, nicht einmal der metaphyſiſche, gottesfürchtige,
mit höchſtem Witz begabte Sebaſtian Bach mir dieſe ge-
waltſam-ſanfte Verſetzung und Erhebung unmittelbar bewirke
Ich hörte vor wenigen Wochen wieder die Makkabäer von
ihm und empfand das alles wieder durch, ohne Aufſchluß.
Geſtern Abend ſang bei Fr. v. Redtel Fräulein Reichardt
eine Arie von ihm, (die du auch gehört haſt und die man
mir durch deinen Beifall empfehlen wollte,) vortrefflich. Die-
ſes Stück, ein Meiſterſtück von gehaltener, gelungener Vollen-
dung brachte mich auf die Spur, wie es mit Händel iſt, und
ich danke es Fräulein Reichardt unendlich. Nämlich, es iſt
diesmal wie mit uns Kreaturen immer, und wir irren über
uns ſelbſt immer von neuem, weil wir uns nicht recht, in
allem Sinne recht — betrachten. Witz: der Geiſt, den wir
haben, der wird nicht mehr, nicht minder, nicht ſtärker, nicht
ſchwächer. Nur ob wir ihn freilaſſen oder nicht; das iſt die
Frage. Freilaſſen iſt hier: in das Gebiet ſtellen, wo er wir-
ken ſoll: denn er wirkt ſtets. Händels Muſik ſtellt uns in
das Gebiet höherer Wehmuth: ſie weint, ſeine Muſik, aber
les larmes de la charité. Nicht Leidenſchaftsthränen über Zu-
ſtände hieſiger Lebensverhältniſſe, ſondern die großen Thrä-
nen der Kreatur überhaupt; die der unmittelbaren Sehnſucht
nach einem Urzuſtand; er führt uns in die Gefilde der Erge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0181" n="173"/>
frag&#x2019; ich mich &#x017F;eit einem Jahre, wodurch bewirkt er dies; mit<lb/>
&#x017F;o kärglichen Mitteln! Welche ungeheure Eingebung, welcher<lb/>
tiefe, reife Witz läßt ihn immer neue einzige Kombinationen<lb/>
für die wenigen Töne, für die &#x017F;par&#x017F;ame Abweichung finden!<lb/>
Ich begriff und begriff es nicht! be&#x017F;onders nicht, daß kein<lb/>
Komponi&#x017F;t, nicht einmal der metaphy&#x017F;i&#x017F;che, gottesfürchtige,<lb/>
mit <hi rendition="#g">höch&#x017F;tem</hi> Witz begabte Seba&#x017F;tian Bach mir die&#x017F;e ge-<lb/>
walt&#x017F;am-&#x017F;anfte Ver&#x017F;etzung und Erhebung unmittelbar bewirke<lb/>
Ich hörte vor wenigen Wochen wieder die Makkabäer von<lb/>
ihm und empfand das alles wieder durch, ohne Auf&#x017F;chluß.<lb/>
Ge&#x017F;tern Abend &#x017F;ang bei Fr. v. Redtel Fräulein Reichardt<lb/>
eine Arie von ihm, (die du auch gehört ha&#x017F;t und die man<lb/>
mir durch deinen Beifall empfehlen wollte,) vortrefflich. Die-<lb/>
&#x017F;es Stück, ein Mei&#x017F;ter&#x017F;tück von gehaltener, gelungener Vollen-<lb/>
dung brachte mich auf die Spur, wie es mit Händel i&#x017F;t, und<lb/>
ich danke es Fräulein Reichardt unendlich. Nämlich, es i&#x017F;t<lb/>
diesmal wie mit uns Kreaturen immer, und wir irren über<lb/>
uns &#x017F;elb&#x017F;t immer von neuem, weil wir uns nicht <hi rendition="#g">recht</hi>, in<lb/>
allem <hi rendition="#g">Sinne</hi> recht &#x2014; betrachten. Witz: der Gei&#x017F;t, den wir<lb/>
haben, der wird nicht mehr, nicht minder, nicht &#x017F;tärker, nicht<lb/>
&#x017F;chwächer. Nur ob wir ihn freila&#x017F;&#x017F;en oder nicht; das i&#x017F;t die<lb/>
Frage. Freila&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t hier: in das Gebiet &#x017F;tellen, wo er wir-<lb/>
ken &#x017F;oll: denn er wirkt &#x017F;tets. Händels Mu&#x017F;ik &#x017F;tellt uns in<lb/>
das Gebiet höherer Wehmuth: &#x017F;ie weint, &#x017F;eine Mu&#x017F;ik, aber<lb/><hi rendition="#aq">les larmes de la charité.</hi> Nicht Leiden&#x017F;chaftsthränen über Zu-<lb/>
&#x017F;tände hie&#x017F;iger Lebensverhältni&#x017F;&#x017F;e, &#x017F;ondern die großen Thrä-<lb/>
nen der Kreatur überhaupt; die der unmittelbaren Sehn&#x017F;ucht<lb/>
nach einem Urzu&#x017F;tand; er führt uns in die Gefilde der Erge-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[173/0181] frag’ ich mich ſeit einem Jahre, wodurch bewirkt er dies; mit ſo kärglichen Mitteln! Welche ungeheure Eingebung, welcher tiefe, reife Witz läßt ihn immer neue einzige Kombinationen für die wenigen Töne, für die ſparſame Abweichung finden! Ich begriff und begriff es nicht! beſonders nicht, daß kein Komponiſt, nicht einmal der metaphyſiſche, gottesfürchtige, mit höchſtem Witz begabte Sebaſtian Bach mir dieſe ge- waltſam-ſanfte Verſetzung und Erhebung unmittelbar bewirke Ich hörte vor wenigen Wochen wieder die Makkabäer von ihm und empfand das alles wieder durch, ohne Aufſchluß. Geſtern Abend ſang bei Fr. v. Redtel Fräulein Reichardt eine Arie von ihm, (die du auch gehört haſt und die man mir durch deinen Beifall empfehlen wollte,) vortrefflich. Die- ſes Stück, ein Meiſterſtück von gehaltener, gelungener Vollen- dung brachte mich auf die Spur, wie es mit Händel iſt, und ich danke es Fräulein Reichardt unendlich. Nämlich, es iſt diesmal wie mit uns Kreaturen immer, und wir irren über uns ſelbſt immer von neuem, weil wir uns nicht recht, in allem Sinne recht — betrachten. Witz: der Geiſt, den wir haben, der wird nicht mehr, nicht minder, nicht ſtärker, nicht ſchwächer. Nur ob wir ihn freilaſſen oder nicht; das iſt die Frage. Freilaſſen iſt hier: in das Gebiet ſtellen, wo er wir- ken ſoll: denn er wirkt ſtets. Händels Muſik ſtellt uns in das Gebiet höherer Wehmuth: ſie weint, ſeine Muſik, aber les larmes de la charité. Nicht Leidenſchaftsthränen über Zu- ſtände hieſiger Lebensverhältniſſe, ſondern die großen Thrä- nen der Kreatur überhaupt; die der unmittelbaren Sehnſucht nach einem Urzuſtand; er führt uns in die Gefilde der Erge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/181
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 173. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/181>, abgerufen am 24.11.2024.