unsre Philosophie nicht in diesen Körper hinein operirt. Da- rum wird auch jede von der neusten hart angegriffen. Was der Geist vermag, und nicht vermag, kann sie zeigen: vom Andern wissen wir nichts, und kennen doch seine Existenz; heißt, sein Wirken. So angesehn, ist Liebe der Inbegriff von allem; aber nicht das bischen auf Nebenmenschen aus Barm- herzigkeit angewandte: sondern jene vielstimmigste Zustimmung, von der wir ein bewußtvoller, gefühlvoller Ton sind; der sich selbst nicht kennt.
Sonnabend, den 13. März 1824.
Zu Novalis Aphorismen.
"Man versteht das Künstliche gewöhnlich besser als das Natürliche. Es gehört mehr Geist zum Einfachen, als zum Komplizirten, aber weniger Talent." (S. 395.) Es ist nicht ganz verständlich, von welchem Natürlichen hier die Rede ist. --
"Jede Wissenschaft hat ihren Gott" etc. Dann sagt er am Ende: "Jede immer getäuschte und immer erneuerte Er- wartung deutet auf ein Kapital in der Zukunftslehre hin. -- Wir suchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge." (S. 396.) Ich finde auch nur überall, und am Ende, ein Defizit -- verlornes, zu suchendes Kapital: daher sind mir willkürliche Lügen und Fablen -- wenn man sie, wie in der Poesie, nicht dafür ausgiebt, und dadurch zu Wahrheit erhebt, weil man dann zeigt, daß man dieses Verfahrens be- nöthigt ist -- womit man dies decken und beschönigen will,
unſre Philoſophie nicht in dieſen Körper hinein operirt. Da- rum wird auch jede von der neuſten hart angegriffen. Was der Geiſt vermag, und nicht vermag, kann ſie zeigen: vom Andern wiſſen wir nichts, und kennen doch ſeine Exiſtenz; heißt, ſein Wirken. So angeſehn, iſt Liebe der Inbegriff von allem; aber nicht das bischen auf Nebenmenſchen aus Barm- herzigkeit angewandte: ſondern jene vielſtimmigſte Zuſtimmung, von der wir ein bewußtvoller, gefühlvoller Ton ſind; der ſich ſelbſt nicht kennt.
Sonnabend, den 13. März 1824.
Zu Novalis Aphorismen.
„Man verſteht das Künſtliche gewöhnlich beſſer als das Natürliche. Es gehört mehr Geiſt zum Einfachen, als zum Komplizirten, aber weniger Talent.“ (S. 395.) Es iſt nicht ganz verſtändlich, von welchem Natürlichen hier die Rede iſt. —
„Jede Wiſſenſchaft hat ihren Gott“ ꝛc. Dann ſagt er am Ende: „Jede immer getäuſchte und immer erneuerte Er- wartung deutet auf ein Kapital in der Zukunftslehre hin. — Wir ſuchen überall das Unbedingte, und finden immer nur Dinge.“ (S. 396.) Ich finde auch nur überall, und am Ende, ein Defizit — verlornes, zu ſuchendes Kapital: daher ſind mir willkürliche Lügen und Fablen — wenn man ſie, wie in der Poeſie, nicht dafür ausgiebt, und dadurch zu Wahrheit erhebt, weil man dann zeigt, daß man dieſes Verfahrens be- nöthigt iſt — womit man dies decken und beſchönigen will,
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0149"n="141"/>
unſre Philoſophie nicht in dieſen Körper hinein operirt. Da-<lb/>
rum wird auch jede von der neuſten hart angegriffen. Was<lb/>
der Geiſt vermag, und nicht vermag, kann ſie zeigen: vom<lb/>
Andern wiſſen wir nichts, und kennen doch ſeine Exiſtenz;<lb/>
heißt, ſein Wirken. So angeſehn, iſt Liebe der Inbegriff von<lb/>
allem; aber nicht das bischen auf Nebenmenſchen aus Barm-<lb/>
herzigkeit angewandte: ſondern jene vielſtimmigſte Zuſtimmung,<lb/>
von der wir ein bewußtvoller, gefühlvoller Ton ſind; der ſich<lb/>ſelbſt nicht kennt.</p><lb/><dateline><hirendition="#et">Sonnabend, den 13. März 1824.</hi></dateline></div></div><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><divn="2"><head>Zu Novalis Aphorismen.</head><lb/><divn="3"><p>„Man verſteht das Künſtliche gewöhnlich beſſer als das<lb/>
Natürliche. Es gehört mehr Geiſt zum Einfachen, als zum<lb/>
Komplizirten, aber weniger Talent.“ (S. 395.) Es iſt nicht<lb/>
ganz verſtändlich, von welchem Natürlichen hier die Rede iſt. —</p><lb/><p>„Jede Wiſſenſchaft hat ihren Gott“ꝛc. Dann ſagt er<lb/>
am Ende: „Jede immer getäuſchte und immer erneuerte Er-<lb/>
wartung deutet auf ein Kapital in der Zukunftslehre hin. —<lb/>
Wir ſuchen überall das Unbedingte, und finden immer nur<lb/>
Dinge.“ (S. 396.) Ich finde auch nur überall, und am Ende,<lb/>
ein <hirendition="#g">Defizit</hi>— verlornes, zu ſuchendes Kapital: daher ſind<lb/>
mir willkürliche Lügen und Fablen — wenn man ſie, wie in<lb/>
der Poeſie, nicht dafür ausgiebt, und dadurch zu Wahrheit<lb/>
erhebt, weil man dann zeigt, daß man dieſes Verfahrens be-<lb/>
nöthigt iſt — womit man dies decken und beſchönigen will,<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[141/0149]
unſre Philoſophie nicht in dieſen Körper hinein operirt. Da-
rum wird auch jede von der neuſten hart angegriffen. Was
der Geiſt vermag, und nicht vermag, kann ſie zeigen: vom
Andern wiſſen wir nichts, und kennen doch ſeine Exiſtenz;
heißt, ſein Wirken. So angeſehn, iſt Liebe der Inbegriff von
allem; aber nicht das bischen auf Nebenmenſchen aus Barm-
herzigkeit angewandte: ſondern jene vielſtimmigſte Zuſtimmung,
von der wir ein bewußtvoller, gefühlvoller Ton ſind; der ſich
ſelbſt nicht kennt.
Sonnabend, den 13. März 1824.
Zu Novalis Aphorismen.
„Man verſteht das Künſtliche gewöhnlich beſſer als das
Natürliche. Es gehört mehr Geiſt zum Einfachen, als zum
Komplizirten, aber weniger Talent.“ (S. 395.) Es iſt nicht
ganz verſtändlich, von welchem Natürlichen hier die Rede iſt. —
„Jede Wiſſenſchaft hat ihren Gott“ ꝛc. Dann ſagt er
am Ende: „Jede immer getäuſchte und immer erneuerte Er-
wartung deutet auf ein Kapital in der Zukunftslehre hin. —
Wir ſuchen überall das Unbedingte, und finden immer nur
Dinge.“ (S. 396.) Ich finde auch nur überall, und am Ende,
ein Defizit — verlornes, zu ſuchendes Kapital: daher ſind
mir willkürliche Lügen und Fablen — wenn man ſie, wie in
der Poeſie, nicht dafür ausgiebt, und dadurch zu Wahrheit
erhebt, weil man dann zeigt, daß man dieſes Verfahrens be-
nöthigt iſt — womit man dies decken und beſchönigen will,
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/149>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.