faßt, aus langer, vielfältiger Beurtheilung ergriffen und er- wählt, aus den tiefsten Betrachtungen hervorgegangen, und mit ihnen geschmückt, obgleich nur damit bekleidet, in gebil- detster, noch lange nachzuahmender -- denn noch lange wird die Nachahmung neu bleiben -- Sprache vorgetragen: das ist ganz gewiß Dichterwerk und Poesie; und mit dieser Skizze von Erörterung ist es hier schon unwiderleglich, daß Wilhelm Meister etwas anderes ist, als wofür der größte Geist, No- valis, ihn hält.
Er, Novalis, konnte das gesellige Leben seiner Zeit nicht erfassen; und mochte es nicht, hauptsächlich. Ihre Denkmas- sen, ihre Wissenschaft, ihr Naturzeitpunkt, ihre Historie, wie sie zu den andern stimmt und zu stellen ist, alles dies war ihm mehr als klar: er bewegte dies alles, und mehr, und sei- nen und aller Zeiten Geister, möchte man fast sagen, nach Willkür beflügelt, als Hellseher; ehrlich und in Unschuld. Aber sein Geist war zu mächtig: er zu sehr in seiner Jugend, und von diesem Geiste getrieben und bewegt, um den geselli- gen Zustand anders als sehr en gros zu erwägen: da schien er ihm freilich klein, oder vielmehr, erschien er ihm kleinlich bis zum Ekel, zum Wegwerfen: und das wollt' er denn auch thun, in der poetischen Arbeit wenigstens; und dies that er im Ofterdingen: war aber doch vom Unternehmen selbst be- zwungen, und wählte, mußte eine andere, vergangene Zeit wählen, die er sich nach Willkür hochstellen zu können glaubte. Aber diese Zeit war in dem Falle, in der unsre ist: mit un- endlichem Unedlen, anscheinend Unwesentlichem, zersetzt; das konnte er großherrisch, edel, jung, kühn, übersehn; als den
faßt, aus langer, vielfältiger Beurtheilung ergriffen und er- wählt, aus den tiefſten Betrachtungen hervorgegangen, und mit ihnen geſchmückt, obgleich nur damit bekleidet, in gebil- detſter, noch lange nachzuahmender — denn noch lange wird die Nachahmung neu bleiben — Sprache vorgetragen: das iſt ganz gewiß Dichterwerk und Poeſie; und mit dieſer Skizze von Erörterung iſt es hier ſchon unwiderleglich, daß Wilhelm Meiſter etwas anderes iſt, als wofür der größte Geiſt, No- valis, ihn hält.
Er, Novalis, konnte das geſellige Leben ſeiner Zeit nicht erfaſſen; und mochte es nicht, hauptſächlich. Ihre Denkmaſ- ſen, ihre Wiſſenſchaft, ihr Naturzeitpunkt, ihre Hiſtorie, wie ſie zu den andern ſtimmt und zu ſtellen iſt, alles dies war ihm mehr als klar: er bewegte dies alles, und mehr, und ſei- nen und aller Zeiten Geiſter, möchte man faſt ſagen, nach Willkür beflügelt, als Hellſeher; ehrlich und in Unſchuld. Aber ſein Geiſt war zu mächtig: er zu ſehr in ſeiner Jugend, und von dieſem Geiſte getrieben und bewegt, um den geſelli- gen Zuſtand anders als ſehr en gros zu erwägen: da ſchien er ihm freilich klein, oder vielmehr, erſchien er ihm kleinlich bis zum Ekel, zum Wegwerfen: und das wollt’ er denn auch thun, in der poetiſchen Arbeit wenigſtens; und dies that er im Ofterdingen: war aber doch vom Unternehmen ſelbſt be- zwungen, und wählte, mußte eine andere, vergangene Zeit wählen, die er ſich nach Willkür hochſtellen zu können glaubte. Aber dieſe Zeit war in dem Falle, in der unſre iſt: mit un- endlichem Unedlen, anſcheinend Unweſentlichem, zerſetzt; das konnte er großherriſch, edel, jung, kühn, überſehn; als den
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faßt, aus langer, vielfältiger Beurtheilung ergriffen und er-
wählt, aus den tiefſten Betrachtungen hervorgegangen, und
mit ihnen geſchmückt, obgleich nur damit bekleidet, in gebil-
detſter, noch lange nachzuahmender — denn noch lange wird
die Nachahmung neu bleiben — Sprache vorgetragen: das
iſt ganz gewiß Dichterwerk und Poeſie; und mit dieſer Skizze
von Erörterung iſt es hier ſchon unwiderleglich, daß Wilhelm
Meiſter etwas anderes iſt, als wofür der größte Geiſt, No-
valis, ihn hält.
Er, Novalis, konnte das geſellige Leben ſeiner Zeit nicht
erfaſſen; und mochte es nicht, hauptſächlich. Ihre Denkmaſ-
ſen, ihre Wiſſenſchaft, ihr Naturzeitpunkt, ihre Hiſtorie, wie
ſie zu den andern ſtimmt und zu ſtellen iſt, alles dies war
ihm mehr als klar: er bewegte dies alles, und mehr, und ſei-
nen und aller Zeiten Geiſter, möchte man faſt ſagen, nach
Willkür beflügelt, als Hellſeher; ehrlich und in Unſchuld.
Aber ſein Geiſt war zu mächtig: er zu ſehr in ſeiner Jugend,
und von dieſem Geiſte getrieben und bewegt, um den geſelli-
gen Zuſtand anders als ſehr en gros zu erwägen: da ſchien
er ihm freilich klein, oder vielmehr, erſchien er ihm kleinlich
bis zum Ekel, zum Wegwerfen: und das wollt’ er denn auch
thun, in der poetiſchen Arbeit wenigſtens; und dies that er
im Ofterdingen: war aber doch vom Unternehmen ſelbſt be-
zwungen, und wählte, mußte eine andere, vergangene Zeit
wählen, die er ſich nach Willkür hochſtellen zu können glaubte.
Aber dieſe Zeit war in dem Falle, in der unſre iſt: mit un-
endlichem Unedlen, anſcheinend Unweſentlichem, zerſetzt; das
konnte er großherriſch, edel, jung, kühn, überſehn; als den
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 3. Berlin, 1834, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel03_1834/146>, abgerufen am 27.11.2024.
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