schehen ist; und ich nicht von der schlappen Sorte bin, daß es mir zweimal geschehen muß. Aber die Verwirrung, und der Matsch werden zu breit. Und Eine ist wirklich etwas muth- drückend, daß die Edleren selbst sich nicht besser vor Modeaf- fectation, mit Frömmigkeitswesen und Sittentugend, zu schützen wissen; noch sich der rohesten, längst in ihre Schlammhöhle zurückgewiesenen Anmaßungen schämen! All dies dringt auch bis in das feinste, sonst holde Gezweige der Geselligkeit. Ei- gentlich das Menschlichste unter Menschen! der Inbegriff, und Ausgangspunkt alles Moralischen! Ohne Gesellen, ohne Mit- genossen des irdischen Daseins, wären wir selbst keine Perso- nen, und ein ethisches Handlen, Gesetz, oder Denken, unmög- lich: unmöglich, ohne die Voraussetzung, daß einem Andern, -- das Bild einer Person -- so sei wie uns, daß er ist, was wir sind. Wenn mir also die Geselligkeit beschädigt ist, bin ich es; wer mir die verdirbt, verdirbt mich: mein eigentlichstes Ich. Wohl denen! sagt man gewöhnlich; ich sage weh denen! die ohne Zusammenhang leben: denen ihr Morgen eine Ge- schäftszeit ist, die mit ihren Abendgesellschaften nicht zu schaf- fen hat: deren Lesen ein Studium ist, unverdautes Lügen pro- duziren zu können; allenfalls in drei, vier Sprachen; deren Betstunde ein Abwaschen der übrigen; deren Nachdenken ein Planmachen, oder höchstens ein zum Gebrauch Zurechtlegen überlieferter Sprüche, einst richtig erfunden, und deren von Andern geglaubtes ewiges Verstellen ihre höchste Satisfaktion, und Ausübung von Tugend ist; welcher Verstellung sie end- lich selbst Glauben beilegen, und sich ihr tugend-eitel opfern.
ſchehen iſt; und ich nicht von der ſchlappen Sorte bin, daß es mir zweimal geſchehen muß. Aber die Verwirrung, und der Matſch werden zu breit. Und Eine iſt wirklich etwas muth- drückend, daß die Edleren ſelbſt ſich nicht beſſer vor Modeaf- fectation, mit Frömmigkeitsweſen und Sittentugend, zu ſchützen wiſſen; noch ſich der roheſten, längſt in ihre Schlammhöhle zurückgewieſenen Anmaßungen ſchämen! All dies dringt auch bis in das feinſte, ſonſt holde Gezweige der Geſelligkeit. Ei- gentlich das Menſchlichſte unter Menſchen! der Inbegriff, und Ausgangspunkt alles Moraliſchen! Ohne Geſellen, ohne Mit- genoſſen des irdiſchen Daſeins, wären wir ſelbſt keine Perſo- nen, und ein ethiſches Handlen, Geſetz, oder Denken, unmög- lich: unmöglich, ohne die Vorausſetzung, daß einem Andern, — das Bild einer Perſon — ſo ſei wie uns, daß er iſt, was wir ſind. Wenn mir alſo die Geſelligkeit beſchädigt iſt, bin ich es; wer mir die verdirbt, verdirbt mich: mein eigentlichſtes Ich. Wohl denen! ſagt man gewöhnlich; ich ſage weh denen! die ohne Zuſammenhang leben: denen ihr Morgen eine Ge- ſchäftszeit iſt, die mit ihren Abendgeſellſchaften nicht zu ſchaf- fen hat: deren Leſen ein Studium iſt, unverdautes Lügen pro- duziren zu können; allenfalls in drei, vier Sprachen; deren Betſtunde ein Abwaſchen der übrigen; deren Nachdenken ein Planmachen, oder höchſtens ein zum Gebrauch Zurechtlegen überlieferter Sprüche, einſt richtig erfunden, und deren von Andern geglaubtes ewiges Verſtellen ihre höchſte Satisfaktion, und Ausübung von Tugend iſt; welcher Verſtellung ſie end- lich ſelbſt Glauben beilegen, und ſich ihr tugend-eitel opfern.
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ſchehen iſt; und ich nicht von der ſchlappen Sorte bin, daß
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Matſch werden zu breit. Und Eine iſt wirklich etwas muth-
drückend, daß die Edleren ſelbſt ſich nicht beſſer vor Modeaf-
fectation, mit Frömmigkeitsweſen und Sittentugend, zu ſchützen
wiſſen; noch ſich der roheſten, längſt in ihre Schlammhöhle
zurückgewieſenen Anmaßungen ſchämen! All dies dringt auch
bis in das feinſte, ſonſt holde Gezweige der Geſelligkeit. Ei-
gentlich das Menſchlichſte unter Menſchen! der Inbegriff, und
Ausgangspunkt alles Moraliſchen! Ohne Geſellen, ohne Mit-
genoſſen des irdiſchen Daſeins, wären wir ſelbſt keine Perſo-
nen, und ein ethiſches Handlen, Geſetz, oder Denken, unmög-
lich: unmöglich, ohne die Vorausſetzung, daß einem Andern, —
das Bild einer Perſon — ſo ſei wie uns, daß er iſt, was
wir ſind. Wenn mir alſo die Geſelligkeit beſchädigt iſt, bin
ich es; wer mir die verdirbt, verdirbt mich: mein eigentlichſtes
Ich. Wohl denen! ſagt man gewöhnlich; ich ſage weh denen!
die ohne Zuſammenhang leben: denen ihr Morgen eine Ge-
ſchäftszeit iſt, die mit ihren Abendgeſellſchaften nicht zu ſchaf-
fen hat: deren Leſen ein Studium iſt, unverdautes Lügen pro-
duziren zu können; allenfalls in drei, vier Sprachen; deren
Betſtunde ein Abwaſchen der übrigen; deren Nachdenken ein
Planmachen, oder höchſtens ein zum Gebrauch Zurechtlegen
überlieferter Sprüche, einſt richtig erfunden, und deren von
Andern geglaubtes ewiges Verſtellen ihre höchſte Satisfaktion,
und Ausübung von Tugend iſt; welcher Verſtellung ſie end-
lich ſelbſt Glauben beilegen, und ſich ihr tugend-eitel opfern.
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 616. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/624>, abgerufen am 23.11.2024.
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