Ruine so ziemlich ins Thal hinabgestiegen waren, wo es nicht groß und nicht klein war, schien die Sonne nicht mehr; nur auf einer uns gegenüberragenden andern Ruine, die durch Optik ganz im Kreise unsers nicht beschienenen Thales ein- geringt war: es war der Abend selbst. Unschuldig, verhält- nißlos, unpersönlich, ungekränkt, ohne Forderung, paradiesisch, ohne Unfall: ganz still athmete er selbst, Glück ein, Glück aus, ohne Zukunft, er war da, befreit, in Glück. Da war's, wo wir Alle ganz schwiegen. Könnt' ich Silbenmaß finden, wie ich einsehe, fühle und Worte finde, so machte ich hieraus ein bleibendes Gedicht. Als ich nach Hause kam, nur in die Hausthür, gab man mir deinen Brief.
An Varnhagen, in Frankfurt a. M.
Baden, den 7. Juli 1815. Freitag Morgen 11 Uhr.
Es regnet nicht unangenehm. Gestern war ein holdseliges Wetter: Mariane ging zum erstenmal wieder mit uns zu Fuß aus: nach dem Schlößchen, wo wir mit Bartholdy waren, wo Gentz gewohnt hatte. Aber einen Götterweg, einen ande- ren! Das Wetter, die Bäume, der Himmel, die Wolken, alles winkte nur so! Ich grüßte es alles wieder. Schnitter waren im Felde. Durch die herrliche Mühle, mit dem Hof und dem Nußbaum gingen wir. Ich dachte an uns. Aber ich war vergnügt, und erheiterte Alle. Der Franzos und Mar- quis Marialva waren mit uns; die Münk, Jettchen, Mariane und ich; morgen reist der Marquis, Metternich hat verboten
Ruine ſo ziemlich ins Thal hinabgeſtiegen waren, wo es nicht groß und nicht klein war, ſchien die Sonne nicht mehr; nur auf einer uns gegenüberragenden andern Ruine, die durch Optik ganz im Kreiſe unſers nicht beſchienenen Thales ein- geringt war: es war der Abend ſelbſt. Unſchuldig, verhält- nißlos, unperſönlich, ungekränkt, ohne Forderung, paradieſiſch, ohne Unfall: ganz ſtill athmete er ſelbſt, Glück ein, Glück aus, ohne Zukunft, er war da, befreit, in Glück. Da war’s, wo wir Alle ganz ſchwiegen. Könnt’ ich Silbenmaß finden, wie ich einſehe, fühle und Worte finde, ſo machte ich hieraus ein bleibendes Gedicht. Als ich nach Hauſe kam, nur in die Hausthür, gab man mir deinen Brief.
An Varnhagen, in Frankfurt a. M.
Baden, den 7. Juli 1815. Freitag Morgen 11 Uhr.
Es regnet nicht unangenehm. Geſtern war ein holdſeliges Wetter: Mariane ging zum erſtenmal wieder mit uns zu Fuß aus: nach dem Schlößchen, wo wir mit Bartholdy waren, wo Gentz gewohnt hatte. Aber einen Götterweg, einen ande- ren! Das Wetter, die Bäume, der Himmel, die Wolken, alles winkte nur ſo! Ich grüßte es alles wieder. Schnitter waren im Felde. Durch die herrliche Mühle, mit dem Hof und dem Nußbaum gingen wir. Ich dachte an uns. Aber ich war vergnügt, und erheiterte Alle. Der Franzos und Mar- quis Marialva waren mit uns; die Münk, Jettchen, Mariane und ich; morgen reiſt der Marquis, Metternich hat verboten
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Ruine ſo ziemlich ins Thal hinabgeſtiegen waren, wo es nicht
groß und nicht klein war, ſchien die Sonne nicht mehr; nur
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Optik ganz im Kreiſe unſers nicht beſchienenen Thales ein-
geringt war: es war der Abend ſelbſt. Unſchuldig, verhält-
nißlos, unperſönlich, ungekränkt, ohne Forderung, paradieſiſch,
ohne Unfall: ganz ſtill athmete er ſelbſt, Glück ein, Glück aus,
ohne Zukunft, er war da, befreit, in Glück. Da war’s, wo
wir Alle ganz ſchwiegen. Könnt’ ich Silbenmaß finden, wie
ich einſehe, fühle und Worte finde, ſo machte ich hieraus ein
bleibendes Gedicht. Als ich nach Hauſe kam, nur in die
Hausthür, gab man mir deinen Brief.
An Varnhagen, in Frankfurt a. M.
Baden, den 7. Juli 1815. Freitag Morgen 11 Uhr.
Es regnet nicht unangenehm. Geſtern war ein holdſeliges
Wetter: Mariane ging zum erſtenmal wieder mit uns zu Fuß
aus: nach dem Schlößchen, wo wir mit Bartholdy waren,
wo Gentz gewohnt hatte. Aber einen Götterweg, einen ande-
ren! Das Wetter, die Bäume, der Himmel, die Wolken,
alles winkte nur ſo! Ich grüßte es alles wieder. Schnitter
waren im Felde. Durch die herrliche Mühle, mit dem Hof
und dem Nußbaum gingen wir. Ich dachte an uns. Aber
ich war vergnügt, und erheiterte Alle. Der Franzos und Mar-
quis Marialva waren mit uns; die Münk, Jettchen, Mariane
und ich; morgen reiſt der Marquis, Metternich hat verboten
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/311>, abgerufen am 22.11.2024.
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