Die Sonne scheint bald, bald nicht, nach Sündfluthen. Gestern Abends kam ich mit Augusten und Frau von M., einem Engländer und Franzosen und anderer Gesellschaft von Rauneck, einem hohen Berge mit Ruinen, wo ein eckiger Thurm steht, den ich noch obenein durch viele Treppen bestieg. Göttliches sah man oben. Ringsum ins Unabsehbare, Hori- zont hinter Horizont; das unglaublichste Lichterspiel, von Dunkel und Hell, auf Kornfeldern, der Schwächat, die wie ein Thier das Thal bekroch, und sich wand, auf Dörfern und Besitzungen ohne Zahl, auf dunkeln, eigensinnigen Bergen. Schafe weideten, Holz wurde gefällt in den Bergwäldern, und lag reinlich, todt und duftend da; auch einen Gewitter- schlag hörten wir, aus einer zum Platzen verdrießlichen, dun- keln, sich senkenden Wolke. In manchem Thalfleck im Ge- birge war's so still, daß man nichts, und nur Vögel hörte; denn auch wir, all die Nationen, schwiegen auch. Es war ein Sonnentag nach langem Regen. Nicht feucht; junges Wetter, herrlich! Ohne dich. Ich empfand es, dacht' es im- merwährend. Auch an Marwitz dacht' ich: und will immer, wenn ich nur kann, wann ich das Freie sehe, das er so sehr liebte, so sehr verstand, seinen Namen, zum Zeichen, daß wir ihn missen, immer nicht vergessen, daß er nicht todt sein soll, aufschreiben (wieder ein Platzregen), wohin ich nur kann. Ein Moment war unbeschreiblich; als wir von unserer
An Varnhagen, in Frankfurt a. M.
Baden bei Wien, den 2. Juli 1815.
Die Sonne ſcheint bald, bald nicht, nach Sündfluthen. Geſtern Abends kam ich mit Auguſten und Frau von M., einem Engländer und Franzoſen und anderer Geſellſchaft von Rauneck, einem hohen Berge mit Ruinen, wo ein eckiger Thurm ſteht, den ich noch obenein durch viele Treppen beſtieg. Göttliches ſah man oben. Ringsum ins Unabſehbare, Hori- zont hinter Horizont; das unglaublichſte Lichterſpiel, von Dunkel und Hell, auf Kornfeldern, der Schwächat, die wie ein Thier das Thal bekroch, und ſich wand, auf Dörfern und Beſitzungen ohne Zahl, auf dunkeln, eigenſinnigen Bergen. Schafe weideten, Holz wurde gefällt in den Bergwäldern, und lag reinlich, todt und duftend da; auch einen Gewitter- ſchlag hörten wir, aus einer zum Platzen verdrießlichen, dun- keln, ſich ſenkenden Wolke. In manchem Thalfleck im Ge- birge war’s ſo ſtill, daß man nichts, und nur Vögel hörte; denn auch wir, all die Nationen, ſchwiegen auch. Es war ein Sonnentag nach langem Regen. Nicht feucht; junges Wetter, herrlich! Ohne dich. Ich empfand es, dacht’ es im- merwährend. Auch an Marwitz dacht’ ich: und will immer, wenn ich nur kann, wann ich das Freie ſehe, das er ſo ſehr liebte, ſo ſehr verſtand, ſeinen Namen, zum Zeichen, daß wir ihn miſſen, immer nicht vergeſſen, daß er nicht todt ſein ſoll, aufſchreiben (wieder ein Platzregen), wohin ich nur kann. Ein Moment war unbeſchreiblich; als wir von unſerer
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0310"n="302"/><divn="2"><head>An Varnhagen, in Frankfurt a. M.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Baden bei Wien, den 2. Juli 1815.</hi></dateline><lb/><p>Die Sonne ſcheint bald, bald nicht, nach Sündfluthen.<lb/>
Geſtern Abends kam ich mit Auguſten und Frau von M.,<lb/>
einem Engländer und Franzoſen und anderer Geſellſchaft von<lb/>
Rauneck, einem hohen Berge mit Ruinen, wo ein eckiger<lb/>
Thurm ſteht, den ich noch obenein durch viele Treppen beſtieg.<lb/>
Göttliches ſah man oben. Ringsum ins Unabſehbare, Hori-<lb/>
zont hinter Horizont; das unglaublichſte Lichterſpiel, von<lb/>
Dunkel und Hell, auf Kornfeldern, der Schwächat, die wie<lb/>
ein Thier das Thal bekroch, und ſich wand, auf Dörfern und<lb/>
Beſitzungen ohne Zahl, auf dunkeln, eigenſinnigen Bergen.<lb/>
Schafe weideten, Holz wurde gefällt in den Bergwäldern,<lb/>
und lag reinlich, todt und duftend da; auch einen Gewitter-<lb/>ſchlag hörten wir, aus einer zum Platzen verdrießlichen, dun-<lb/>
keln, ſich ſenkenden Wolke. In manchem Thalfleck im Ge-<lb/>
birge war’s <hirendition="#g">ſo</hi>ſtill, daß man nichts, und nur Vögel hörte;<lb/>
denn auch wir, all die Nationen, ſchwiegen auch. Es war<lb/>
ein Sonnentag nach langem Regen. Nicht feucht; junges<lb/>
Wetter, herrlich! Ohne dich. Ich empfand es, dacht’ es im-<lb/>
merwährend. Auch an Marwitz dacht’ ich: und will immer,<lb/>
wenn ich nur kann, <hirendition="#g">wann</hi> ich das Freie ſehe, das er ſo ſehr<lb/>
liebte, ſo ſehr verſtand, ſeinen Namen, zum Zeichen, daß wir<lb/>
ihn miſſen, immer nicht vergeſſen, daß er nicht todt <hirendition="#g">ſein<lb/>ſoll</hi>, aufſchreiben (wieder ein Platzregen), wohin ich nur<lb/>
kann. <hirendition="#g">Ein</hi> Moment war unbeſchreiblich; als wir von unſerer<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[302/0310]
An Varnhagen, in Frankfurt a. M.
Baden bei Wien, den 2. Juli 1815.
Die Sonne ſcheint bald, bald nicht, nach Sündfluthen.
Geſtern Abends kam ich mit Auguſten und Frau von M.,
einem Engländer und Franzoſen und anderer Geſellſchaft von
Rauneck, einem hohen Berge mit Ruinen, wo ein eckiger
Thurm ſteht, den ich noch obenein durch viele Treppen beſtieg.
Göttliches ſah man oben. Ringsum ins Unabſehbare, Hori-
zont hinter Horizont; das unglaublichſte Lichterſpiel, von
Dunkel und Hell, auf Kornfeldern, der Schwächat, die wie
ein Thier das Thal bekroch, und ſich wand, auf Dörfern und
Beſitzungen ohne Zahl, auf dunkeln, eigenſinnigen Bergen.
Schafe weideten, Holz wurde gefällt in den Bergwäldern,
und lag reinlich, todt und duftend da; auch einen Gewitter-
ſchlag hörten wir, aus einer zum Platzen verdrießlichen, dun-
keln, ſich ſenkenden Wolke. In manchem Thalfleck im Ge-
birge war’s ſo ſtill, daß man nichts, und nur Vögel hörte;
denn auch wir, all die Nationen, ſchwiegen auch. Es war
ein Sonnentag nach langem Regen. Nicht feucht; junges
Wetter, herrlich! Ohne dich. Ich empfand es, dacht’ es im-
merwährend. Auch an Marwitz dacht’ ich: und will immer,
wenn ich nur kann, wann ich das Freie ſehe, das er ſo ſehr
liebte, ſo ſehr verſtand, ſeinen Namen, zum Zeichen, daß wir
ihn miſſen, immer nicht vergeſſen, daß er nicht todt ſein
ſoll, aufſchreiben (wieder ein Platzregen), wohin ich nur
kann. Ein Moment war unbeſchreiblich; als wir von unſerer
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/310>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.