nach; und im größten Gemüthsaufruhr machte ich ihm doch keine neue Frage, wo er mir schon Einmal geantwortet hatte. Große Indizien zur Beurtheilung eines Menschen.
An Frau von Humboldt, in Wien.
Prag, den 7. December 1813.
-- Vorgestern früh ist Gentz abgereist; zwei Tage vor seiner Abreise nahm er Abschied bei mir, und sagte im Weg- gehn: "Verzeihen Sie mir alles, was ich Ihnen hier gethan habe!" Ohne alle Veranlassung, wir sprachen von nichts Persönlichem. Mein Lächeln war beinah ein Lachen: ich sagte Ja; er wiederholte die Bitte mit denselben Worten, und küßte mir die Hand, und sagte noch: "Und bleiben Sie mir auch etwas gut?" so in dem Ton von "bitte bitte!" Ich sagte ganz unbefangen, und frei und äußerst wild -- denn im Augenblick kann ich immer alles: und habe die größte, ja unwillkürliche Gewalt über mich: in dem Augenblick, dem ersten, wie gesagt -- ja liebevoll und freundlich: "Daraus machen Sie sich ja gar nichts?" -- "O ja! O ja!" Er küßte mir wieder die Hand, und ging. Hast du davon eine Idee? Zu wissen, daß man einen schlecht behandelt hat, und hof- fen, er wird es vergeben? Doch ich werde nie eine Vorstellung einer Seele haben, die ihre Lebenserscheinungen nicht in ihrem Herzen niederlegt; in der alles wie Dekorationen nur vor der Stirn hin und hergeschoben wird. Wie sie bestehen, und nur weiter leben, zusammenhalten, ist mir eben solch Räthsel.
nach; und im größten Gemüthsaufruhr machte ich ihm doch keine neue Frage, wo er mir ſchon Einmal geantwortet hatte. Große Indizien zur Beurtheilung eines Menſchen.
An Frau von Humboldt, in Wien.
Prag, den 7. December 1813.
— Vorgeſtern früh iſt Gentz abgereiſt; zwei Tage vor ſeiner Abreiſe nahm er Abſchied bei mir, und ſagte im Weg- gehn: „Verzeihen Sie mir alles, was ich Ihnen hier gethan habe!“ Ohne alle Veranlaſſung, wir ſprachen von nichts Perſönlichem. Mein Lächeln war beinah ein Lachen: ich ſagte Ja; er wiederholte die Bitte mit denſelben Worten, und küßte mir die Hand, und ſagte noch: „Und bleiben Sie mir auch etwas gut?“ ſo in dem Ton von „bitte bitte!“ Ich ſagte ganz unbefangen, und frei und äußerſt wild — denn im Augenblick kann ich immer alles: und habe die größte, ja unwillkürliche Gewalt über mich: in dem Augenblick, dem erſten, wie geſagt — ja liebevoll und freundlich: „Daraus machen Sie ſich ja gar nichts?“ — „O ja! O ja!“ Er küßte mir wieder die Hand, und ging. Haſt du davon eine Idee? Zu wiſſen, daß man einen ſchlecht behandelt hat, und hof- fen, er wird es vergeben? Doch ich werde nie eine Vorſtellung einer Seele haben, die ihre Lebenserſcheinungen nicht in ihrem Herzen niederlegt; in der alles wie Dekorationen nur vor der Stirn hin und hergeſchoben wird. Wie ſie beſtehen, und nur weiter leben, zuſammenhalten, iſt mir eben ſolch Räthſel.
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[152/0160]
nach; und im größten Gemüthsaufruhr machte ich ihm doch
keine neue Frage, wo er mir ſchon Einmal geantwortet hatte.
Große Indizien zur Beurtheilung eines Menſchen.
An Frau von Humboldt, in Wien.
Prag, den 7. December 1813.
— Vorgeſtern früh iſt Gentz abgereiſt; zwei Tage vor
ſeiner Abreiſe nahm er Abſchied bei mir, und ſagte im Weg-
gehn: „Verzeihen Sie mir alles, was ich Ihnen hier gethan
habe!“ Ohne alle Veranlaſſung, wir ſprachen von nichts
Perſönlichem. Mein Lächeln war beinah ein Lachen: ich ſagte
Ja; er wiederholte die Bitte mit denſelben Worten, und küßte
mir die Hand, und ſagte noch: „Und bleiben Sie mir auch
etwas gut?“ ſo in dem Ton von „bitte bitte!“ Ich ſagte
ganz unbefangen, und frei und äußerſt wild — denn im
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ja unwillkürliche Gewalt über mich: in dem Augenblick, dem
erſten, wie geſagt — ja liebevoll und freundlich: „Daraus
machen Sie ſich ja gar nichts?“ — „O ja! O ja!“ Er küßte
mir wieder die Hand, und ging. Haſt du davon eine Idee?
Zu wiſſen, daß man einen ſchlecht behandelt hat, und hof-
fen, er wird es vergeben? Doch ich werde nie eine Vorſtellung
einer Seele haben, die ihre Lebenserſcheinungen nicht in ihrem
Herzen niederlegt; in der alles wie Dekorationen nur vor der
Stirn hin und hergeſchoben wird. Wie ſie beſtehen, und nur
weiter leben, zuſammenhalten, iſt mir eben ſolch Räthſel.
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 152. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/160>, abgerufen am 09.11.2024.
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