eben so sind unsere tief natürlichsten Wünsche roh; und gräuel- hast entwickelte sich ihre Erfüllung für uns; nur das, was Gott wirklich zuläßt, ist in allen Beziehungen heilsam für uns, weil wir uns ihm entgegen bilden können. Mir ist dies schmerzhaft geschehen und, klar geworden. Wem dies glimpf- lich begegnet, der hat Glück.
"Die Menschen verstehen einander nicht." Sie lieben sich zu ungleichen Stunden; möchte ich noch hinzusetzen.
An Varnhagen, in Holstein.
Prag, den 1. December 1813.
-- Die Gemüthsbewegungen waren diesen Sommer zu stark für mich. Angst, Sorge, Ärger, Mitleid. Und was ich hier sah!!! Nie sah ich so den Krieg. Im September war ich schon krank, und wollte doch die Soldaten nicht weggehen lassen, also ging ich immer auf den Flur zu ihnen mit Fie- ber: zuletzt ließ ich sie schaarenweise vor mein Bette kommen; es war au fort ihrer Leiden. Ein Schuft wäre ich gewesen, hätte ich nichts davon leiden wollen. Ich wußte es sehr gut, ich fühlte wie es mir schadete, aber es ist mir noch eine Wonne! Ich mache mir so bei jeder guten Suppe, bei jedem guten Bissen ein Gewissen. Nun sind wir hier ruhig: aber in ganz Deutschland, in Holland, überall hiebt und schießt man in Menschen, in weiches, schmerzfähiges Fleisch, Adern und Gebein. Man nimmt, darbt, mißhandelt! Ach von meinen Jägern, die
eben ſo ſind unſere tief natürlichſten Wünſche roh; und gräuel- haſt entwickelte ſich ihre Erfüllung für uns; nur das, was Gott wirklich zuläßt, iſt in allen Beziehungen heilſam für uns, weil wir uns ihm entgegen bilden können. Mir iſt dies ſchmerzhaft geſchehen und, klar geworden. Wem dies glimpf- lich begegnet, der hat Glück.
„Die Menſchen verſtehen einander nicht.“ Sie lieben ſich zu ungleichen Stunden; möchte ich noch hinzuſetzen.
An Varnhagen, in Holſtein.
Prag, den 1. December 1813.
— Die Gemüthsbewegungen waren dieſen Sommer zu ſtark für mich. Angſt, Sorge, Ärger, Mitleid. Und was ich hier ſah!!! Nie ſah ich ſo den Krieg. Im September war ich ſchon krank, und wollte doch die Soldaten nicht weggehen laſſen, alſo ging ich immer auf den Flur zu ihnen mit Fie- ber: zuletzt ließ ich ſie ſchaarenweiſe vor mein Bette kommen; es war au fort ihrer Leiden. Ein Schuft wäre ich geweſen, hätte ich nichts davon leiden wollen. Ich wußte es ſehr gut, ich fühlte wie es mir ſchadete, aber es iſt mir noch eine Wonne! Ich mache mir ſo bei jeder guten Suppe, bei jedem guten Biſſen ein Gewiſſen. Nun ſind wir hier ruhig: aber in ganz Deutſchland, in Holland, überall hiebt und ſchießt man in Menſchen, in weiches, ſchmerzfähiges Fleiſch, Adern und Gebein. Man nimmt, darbt, mißhandelt! Ach von meinen Jägern, die
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eben ſo ſind unſere tief natürlichſten Wünſche roh; und gräuel-
haſt entwickelte ſich ihre Erfüllung für uns; nur das, was
Gott wirklich zuläßt, iſt in allen Beziehungen heilſam für
uns, weil wir uns ihm entgegen bilden können. Mir iſt dies
ſchmerzhaft geſchehen und, klar geworden. Wem dies glimpf-
lich begegnet, der hat Glück.
„Die Menſchen verſtehen einander nicht.“ Sie lieben
ſich zu ungleichen Stunden; möchte ich noch hinzuſetzen.
An Varnhagen, in Holſtein.
Prag, den 1. December 1813.
— Die Gemüthsbewegungen waren dieſen Sommer zu ſtark
für mich. Angſt, Sorge, Ärger, Mitleid. Und was ich hier
ſah!!! Nie ſah ich ſo den Krieg. Im September war ich
ſchon krank, und wollte doch die Soldaten nicht weggehen
laſſen, alſo ging ich immer auf den Flur zu ihnen mit Fie-
ber: zuletzt ließ ich ſie ſchaarenweiſe vor mein Bette kommen;
es war au fort ihrer Leiden. Ein Schuft wäre ich geweſen,
hätte ich nichts davon leiden wollen. Ich wußte es ſehr
gut, ich fühlte wie es mir ſchadete, aber es iſt mir noch eine
Wonne! Ich mache mir ſo bei jeder guten Suppe, bei jedem
guten Biſſen ein Gewiſſen. Nun ſind wir hier ruhig: aber in
ganz Deutſchland, in Holland, überall hiebt und ſchießt man in
Menſchen, in weiches, ſchmerzfähiges Fleiſch, Adern und Gebein.
Man nimmt, darbt, mißhandelt! Ach von meinen Jägern, die
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde. Bd. 2. Berlin, 1834, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel02_1834/156>, abgerufen am 21.11.2024.
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