Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

halb drei wollte ich gehen. trat herein, grüßte mich, sagte
"Wie geht's," ohne die Antwort abzuwarten, ohne mich an-
zusehen. -- Sah mich nicht Einmal an; auch beim Begleiten
nicht; -- was ist das für eine Verlegenheit? Dabei lobt er
mich? Er sieht sehr zusammengeschrumpft, schlimm und unor-
dentlich, und präoccupirt und besorgt aus. --



An Wilhelm von Humboldt, in Königsberg.

Ohne auf irgend etwas Gutes weder in der Nähe noch
in der Ferne hoffen zu können, siegle ich ein Billet an Mlle.
Cramer zu, und denke weiter zu lesen; erdrückt von der Geist-
losigkeit aller Menschen, die nun noch um mich sind, aber
auch wie ein Geist ganz von ihnen abgelöst: man überreicht
mir Ihren Brief! (Hr. Uhden schickte ihn mir; die Schönar-
mige, die ich noch nicht gesehen habe, ist gestern Abend um
7 Uhr angekommen.) Ich freue mich des Briefes, deß, was
Sie mir schicken: ich freue mich, daß es Ihnen so steril geht
als mir! Ich begreife durchaus, was Sie mir schreiben; An-
wesende müssen Abwesende aus dem Herzen hervorrufen; und
zu Angedenken -- souvenirs -- gehört Umgebung; und wenn
ich hier Andern diente, so wäre es billig, daß in Königsberg
mir es Einer thäte. Vor kurzer Zeit hatte ich noch einen sol-
chen Umgang, daß ich von Ihnen sprechen, und sehr gut an
Sie denken konnte: Alexander von Marwitz sah ich oft, nun
ist er seit vierzehn Tagen verreist: "eine andere Heerde zu
hüten!" Als er hörte, daß ich Sie kenne, frug er mich sehr

halb drei wollte ich gehen. trat herein, grüßte mich, ſagte
„Wie geht’s,“ ohne die Antwort abzuwarten, ohne mich an-
zuſehen. — Sah mich nicht Einmal an; auch beim Begleiten
nicht; — was iſt das für eine Verlegenheit? Dabei lobt er
mich? Er ſieht ſehr zuſammengeſchrumpft, ſchlimm und unor-
dentlich, und präoccupirt und beſorgt aus. —



An Wilhelm von Humboldt, in Königsberg.

Ohne auf irgend etwas Gutes weder in der Nähe noch
in der Ferne hoffen zu können, ſiegle ich ein Billet an Mlle.
Cramer zu, und denke weiter zu leſen; erdrückt von der Geiſt-
loſigkeit aller Menſchen, die nun noch um mich ſind, aber
auch wie ein Geiſt ganz von ihnen abgelöſt: man überreicht
mir Ihren Brief! (Hr. Uhden ſchickte ihn mir; die Schönar-
mige, die ich noch nicht geſehen habe, iſt geſtern Abend um
7 Uhr angekommen.) Ich freue mich des Briefes, deß, was
Sie mir ſchicken: ich freue mich, daß es Ihnen ſo ſteril geht
als mir! Ich begreife durchaus, was Sie mir ſchreiben; An-
weſende müſſen Abweſende aus dem Herzen hervorrufen; und
zu Angedenken — souvenirs — gehört Umgebung; und wenn
ich hier Andern diente, ſo wäre es billig, daß in Königsberg
mir es Einer thäte. Vor kurzer Zeit hatte ich noch einen ſol-
chen Umgang, daß ich von Ihnen ſprechen, und ſehr gut an
Sie denken konnte: Alexander von Marwitz ſah ich oft, nun
iſt er ſeit vierzehn Tagen verreiſt: „eine andere Heerde zu
hüten!“ Als er hörte, daß ich Sie kenne, frug er mich ſehr

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0440" n="426"/>
halb drei wollte ich gehen. trat herein, grüßte mich, &#x017F;agte<lb/>
&#x201E;Wie geht&#x2019;s,&#x201C; ohne die Antwort abzuwarten, ohne mich an-<lb/>
zu&#x017F;ehen. &#x2014; Sah mich nicht Einmal an; auch beim Begleiten<lb/>
nicht; &#x2014; was i&#x017F;t das für eine Verlegenheit? Dabei lobt er<lb/>
mich? Er &#x017F;ieht &#x017F;ehr zu&#x017F;ammenge&#x017F;chrumpft, &#x017F;chlimm und unor-<lb/>
dentlich, und präoccupirt und be&#x017F;orgt aus. &#x2014;</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>An Wilhelm von Humboldt, in Königsberg.</head><lb/>
          <div n="3">
            <dateline> <hi rendition="#et">Berlin, Mittwoch, den 28. Juni 1809.</hi> </dateline><lb/>
            <p>Ohne auf irgend etwas Gutes weder in der Nähe noch<lb/>
in der Ferne hoffen zu können, &#x017F;iegle ich ein Billet an Mlle.<lb/>
Cramer zu, und denke weiter zu le&#x017F;en; erdrückt von der Gei&#x017F;t-<lb/>
lo&#x017F;igkeit aller Men&#x017F;chen, die nun noch um mich &#x017F;ind, aber<lb/>
auch wie ein Gei&#x017F;t ganz von ihnen abgelö&#x017F;t: man überreicht<lb/>
mir Ihren Brief! (Hr. Uhden &#x017F;chickte ihn mir; die Schönar-<lb/>
mige, die ich noch nicht ge&#x017F;ehen habe, i&#x017F;t ge&#x017F;tern Abend um<lb/>
7 Uhr angekommen.) Ich freue mich des Briefes, deß, was<lb/>
Sie mir &#x017F;chicken: ich freue mich, daß es Ihnen &#x017F;o &#x017F;teril geht<lb/>
als mir! Ich begreife durchaus, was Sie mir &#x017F;chreiben; An-<lb/>
we&#x017F;ende mü&#x017F;&#x017F;en Abwe&#x017F;ende aus dem Herzen hervorrufen; und<lb/>
zu Angedenken &#x2014; <hi rendition="#aq">souvenirs</hi> &#x2014; gehört Umgebung; und wenn<lb/>
ich hier Andern diente, &#x017F;o wäre es billig, daß in Königsberg<lb/>
mir es Einer thäte. Vor kurzer Zeit hatte ich noch einen &#x017F;ol-<lb/>
chen Umgang, daß ich von Ihnen &#x017F;prechen, und &#x017F;ehr gut an<lb/>
Sie denken konnte: Alexander von Marwitz &#x017F;ah ich oft, nun<lb/>
i&#x017F;t er &#x017F;eit vierzehn Tagen verrei&#x017F;t: &#x201E;eine andere Heerde zu<lb/>
hüten!&#x201C; Als er hörte, daß ich Sie kenne, frug er mich &#x017F;ehr<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[426/0440] halb drei wollte ich gehen. trat herein, grüßte mich, ſagte „Wie geht’s,“ ohne die Antwort abzuwarten, ohne mich an- zuſehen. — Sah mich nicht Einmal an; auch beim Begleiten nicht; — was iſt das für eine Verlegenheit? Dabei lobt er mich? Er ſieht ſehr zuſammengeſchrumpft, ſchlimm und unor- dentlich, und präoccupirt und beſorgt aus. — An Wilhelm von Humboldt, in Königsberg. Berlin, Mittwoch, den 28. Juni 1809. Ohne auf irgend etwas Gutes weder in der Nähe noch in der Ferne hoffen zu können, ſiegle ich ein Billet an Mlle. Cramer zu, und denke weiter zu leſen; erdrückt von der Geiſt- loſigkeit aller Menſchen, die nun noch um mich ſind, aber auch wie ein Geiſt ganz von ihnen abgelöſt: man überreicht mir Ihren Brief! (Hr. Uhden ſchickte ihn mir; die Schönar- mige, die ich noch nicht geſehen habe, iſt geſtern Abend um 7 Uhr angekommen.) Ich freue mich des Briefes, deß, was Sie mir ſchicken: ich freue mich, daß es Ihnen ſo ſteril geht als mir! Ich begreife durchaus, was Sie mir ſchreiben; An- weſende müſſen Abweſende aus dem Herzen hervorrufen; und zu Angedenken — souvenirs — gehört Umgebung; und wenn ich hier Andern diente, ſo wäre es billig, daß in Königsberg mir es Einer thäte. Vor kurzer Zeit hatte ich noch einen ſol- chen Umgang, daß ich von Ihnen ſprechen, und ſehr gut an Sie denken konnte: Alexander von Marwitz ſah ich oft, nun iſt er ſeit vierzehn Tagen verreiſt: „eine andere Heerde zu hüten!“ Als er hörte, daß ich Sie kenne, frug er mich ſehr

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/440
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/440>, abgerufen am 25.11.2024.