halb drei wollte ich gehen. trat herein, grüßte mich, sagte "Wie geht's," ohne die Antwort abzuwarten, ohne mich an- zusehen. -- Sah mich nicht Einmal an; auch beim Begleiten nicht; -- was ist das für eine Verlegenheit? Dabei lobt er mich? Er sieht sehr zusammengeschrumpft, schlimm und unor- dentlich, und präoccupirt und besorgt aus. --
An Wilhelm von Humboldt, in Königsberg.
Berlin, Mittwoch, den 28. Juni 1809.
Ohne auf irgend etwas Gutes weder in der Nähe noch in der Ferne hoffen zu können, siegle ich ein Billet an Mlle. Cramer zu, und denke weiter zu lesen; erdrückt von der Geist- losigkeit aller Menschen, die nun noch um mich sind, aber auch wie ein Geist ganz von ihnen abgelöst: man überreicht mir Ihren Brief! (Hr. Uhden schickte ihn mir; die Schönar- mige, die ich noch nicht gesehen habe, ist gestern Abend um 7 Uhr angekommen.) Ich freue mich des Briefes, deß, was Sie mir schicken: ich freue mich, daß es Ihnen so steril geht als mir! Ich begreife durchaus, was Sie mir schreiben; An- wesende müssen Abwesende aus dem Herzen hervorrufen; und zu Angedenken -- souvenirs -- gehört Umgebung; und wenn ich hier Andern diente, so wäre es billig, daß in Königsberg mir es Einer thäte. Vor kurzer Zeit hatte ich noch einen sol- chen Umgang, daß ich von Ihnen sprechen, und sehr gut an Sie denken konnte: Alexander von Marwitz sah ich oft, nun ist er seit vierzehn Tagen verreist: "eine andere Heerde zu hüten!" Als er hörte, daß ich Sie kenne, frug er mich sehr
halb drei wollte ich gehen. trat herein, grüßte mich, ſagte „Wie geht’s,“ ohne die Antwort abzuwarten, ohne mich an- zuſehen. — Sah mich nicht Einmal an; auch beim Begleiten nicht; — was iſt das für eine Verlegenheit? Dabei lobt er mich? Er ſieht ſehr zuſammengeſchrumpft, ſchlimm und unor- dentlich, und präoccupirt und beſorgt aus. —
An Wilhelm von Humboldt, in Königsberg.
Berlin, Mittwoch, den 28. Juni 1809.
Ohne auf irgend etwas Gutes weder in der Nähe noch in der Ferne hoffen zu können, ſiegle ich ein Billet an Mlle. Cramer zu, und denke weiter zu leſen; erdrückt von der Geiſt- loſigkeit aller Menſchen, die nun noch um mich ſind, aber auch wie ein Geiſt ganz von ihnen abgelöſt: man überreicht mir Ihren Brief! (Hr. Uhden ſchickte ihn mir; die Schönar- mige, die ich noch nicht geſehen habe, iſt geſtern Abend um 7 Uhr angekommen.) Ich freue mich des Briefes, deß, was Sie mir ſchicken: ich freue mich, daß es Ihnen ſo ſteril geht als mir! Ich begreife durchaus, was Sie mir ſchreiben; An- weſende müſſen Abweſende aus dem Herzen hervorrufen; und zu Angedenken — souvenirs — gehört Umgebung; und wenn ich hier Andern diente, ſo wäre es billig, daß in Königsberg mir es Einer thäte. Vor kurzer Zeit hatte ich noch einen ſol- chen Umgang, daß ich von Ihnen ſprechen, und ſehr gut an Sie denken konnte: Alexander von Marwitz ſah ich oft, nun iſt er ſeit vierzehn Tagen verreiſt: „eine andere Heerde zu hüten!“ Als er hörte, daß ich Sie kenne, frug er mich ſehr
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halb drei wollte ich gehen. trat herein, grüßte mich, ſagte
„Wie geht’s,“ ohne die Antwort abzuwarten, ohne mich an-
zuſehen. — Sah mich nicht Einmal an; auch beim Begleiten
nicht; — was iſt das für eine Verlegenheit? Dabei lobt er
mich? Er ſieht ſehr zuſammengeſchrumpft, ſchlimm und unor-
dentlich, und präoccupirt und beſorgt aus. —
An Wilhelm von Humboldt, in Königsberg.
Berlin, Mittwoch, den 28. Juni 1809.
Ohne auf irgend etwas Gutes weder in der Nähe noch
in der Ferne hoffen zu können, ſiegle ich ein Billet an Mlle.
Cramer zu, und denke weiter zu leſen; erdrückt von der Geiſt-
loſigkeit aller Menſchen, die nun noch um mich ſind, aber
auch wie ein Geiſt ganz von ihnen abgelöſt: man überreicht
mir Ihren Brief! (Hr. Uhden ſchickte ihn mir; die Schönar-
mige, die ich noch nicht geſehen habe, iſt geſtern Abend um
7 Uhr angekommen.) Ich freue mich des Briefes, deß, was
Sie mir ſchicken: ich freue mich, daß es Ihnen ſo ſteril geht
als mir! Ich begreife durchaus, was Sie mir ſchreiben; An-
weſende müſſen Abweſende aus dem Herzen hervorrufen; und
zu Angedenken — souvenirs — gehört Umgebung; und wenn
ich hier Andern diente, ſo wäre es billig, daß in Königsberg
mir es Einer thäte. Vor kurzer Zeit hatte ich noch einen ſol-
chen Umgang, daß ich von Ihnen ſprechen, und ſehr gut an
Sie denken konnte: Alexander von Marwitz ſah ich oft, nun
iſt er ſeit vierzehn Tagen verreiſt: „eine andere Heerde zu
hüten!“ Als er hörte, daß ich Sie kenne, frug er mich ſehr
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/440>, abgerufen am 25.11.2024.
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