Erwachte ich mit Schreck: wollte schreiben, aber konnte nicht; ging allein, unter grauem Himmel weg; am Ende Charlottenburgs, Berlin zu, sprach mich ein Lahmer Almosen fordernd an; er kannte mich; es war ein junger Kanonier, bei Jena in's Knie geschossen; ich ging der Spree zu querfeld mit ihm, er erzählte mir alles: und wollte mich weiter, als sein eigen Ziel war, begleiten, seines Beines wegen wollte ich nicht: ich ging allein. Schön, sehr schön war Wiese und Feld und Luft, und Schein und Kraut. Tausend tausenderlei sah ich auf der Wiese, alles alles hätte ich gerne Marwitz gezeigt; er war der Letzte, den ich sah, der so etwas verstand. Halb betrübte mich die Welt doppelt, und ich fühlte mich herb bis in's Innerste abgerissen, erschlagen, und weggeworfen; halb tröstete es mich, daß ich doch noch etwas empfand. Alles überlegte ich mir noch Einmal; machte mir die Eindrücke über Marwitz recht klar, überdachte alles, immer in größern Um- fängen; ging nach zwei Stunden mit schwerem Körper nach Hause. Als ich weiter der neuen Trauer meiner Seele nach- spüren wollte, ward ich noch gräulicher gestört, man kam mir mit der Nachricht entgegen, es sei ein toller Hund im Orte, er habe einen andern, und auch ein Kind gebissen. Das fehlte mir! Nun war an kein Ausgehen zu denken. Den Tag blieb ich, schrecklich erschlagen und mit peinigender Angst im Her- zen, und vielen Schrecken über mich selbst, zu Hause. Um 6 fuhren wir nach Schöneberg, um nicht im Orte eingesperrt zu bleiben. Der Weg war reizend, und sah ganz üppig aus: die Sonne, die bald aus röthlichem und weißem sehr zerstreu-
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Mittwoch.
Erwachte ich mit Schreck: wollte ſchreiben, aber konnte nicht; ging allein, unter grauem Himmel weg; am Ende Charlottenburgs, Berlin zu, ſprach mich ein Lahmer Almoſen fordernd an; er kannte mich; es war ein junger Kanonier, bei Jena in’s Knie geſchoſſen; ich ging der Spree zu querfeld mit ihm, er erzählte mir alles: und wollte mich weiter, als ſein eigen Ziel war, begleiten, ſeines Beines wegen wollte ich nicht: ich ging allein. Schön, ſehr ſchön war Wieſe und Feld und Luft, und Schein und Kraut. Tauſend tauſenderlei ſah ich auf der Wieſe, alles alles hätte ich gerne Marwitz gezeigt; er war der Letzte, den ich ſah, der ſo etwas verſtand. Halb betrübte mich die Welt doppelt, und ich fühlte mich herb bis in’s Innerſte abgeriſſen, erſchlagen, und weggeworfen; halb tröſtete es mich, daß ich doch noch etwas empfand. Alles überlegte ich mir noch Einmal; machte mir die Eindrücke über Marwitz recht klar, überdachte alles, immer in größern Um- fängen; ging nach zwei Stunden mit ſchwerem Körper nach Hauſe. Als ich weiter der neuen Trauer meiner Seele nach- ſpüren wollte, ward ich noch gräulicher geſtört, man kam mir mit der Nachricht entgegen, es ſei ein toller Hund im Orte, er habe einen andern, und auch ein Kind gebiſſen. Das fehlte mir! Nun war an kein Ausgehen zu denken. Den Tag blieb ich, ſchrecklich erſchlagen und mit peinigender Angſt im Her- zen, und vielen Schrecken über mich ſelbſt, zu Hauſe. Um 6 fuhren wir nach Schöneberg, um nicht im Orte eingeſperrt zu bleiben. Der Weg war reizend, und ſah ganz üppig aus: die Sonne, die bald aus röthlichem und weißem ſehr zerſtreu-
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Mittwoch.
Erwachte ich mit Schreck: wollte ſchreiben, aber konnte
nicht; ging allein, unter grauem Himmel weg; am Ende
Charlottenburgs, Berlin zu, ſprach mich ein Lahmer Almoſen
fordernd an; er kannte mich; es war ein junger Kanonier,
bei Jena in’s Knie geſchoſſen; ich ging der Spree zu querfeld
mit ihm, er erzählte mir alles: und wollte mich weiter, als
ſein eigen Ziel war, begleiten, ſeines Beines wegen wollte ich
nicht: ich ging allein. Schön, ſehr ſchön war Wieſe und Feld
und Luft, und Schein und Kraut. Tauſend tauſenderlei ſah
ich auf der Wieſe, alles alles hätte ich gerne Marwitz gezeigt;
er war der Letzte, den ich ſah, der ſo etwas verſtand. Halb
betrübte mich die Welt doppelt, und ich fühlte mich herb bis
in’s Innerſte abgeriſſen, erſchlagen, und weggeworfen; halb
tröſtete es mich, daß ich doch noch etwas empfand. Alles
überlegte ich mir noch Einmal; machte mir die Eindrücke über
Marwitz recht klar, überdachte alles, immer in größern Um-
fängen; ging nach zwei Stunden mit ſchwerem Körper nach
Hauſe. Als ich weiter der neuen Trauer meiner Seele nach-
ſpüren wollte, ward ich noch gräulicher geſtört, man kam mir
mit der Nachricht entgegen, es ſei ein toller Hund im Orte,
er habe einen andern, und auch ein Kind gebiſſen. Das fehlte
mir! Nun war an kein Ausgehen zu denken. Den Tag blieb
ich, ſchrecklich erſchlagen und mit peinigender Angſt im Her-
zen, und vielen Schrecken über mich ſelbſt, zu Hauſe. Um 6
fuhren wir nach Schöneberg, um nicht im Orte eingeſperrt zu
bleiben. Der Weg war reizend, und ſah ganz üppig aus:
die Sonne, die bald aus röthlichem und weißem ſehr zerſtreu-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 419. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/433>, abgerufen am 26.11.2024.
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