Nie werden Sie mich los! So lange uns Eine Erde trägt. Auch ich bin im Unglück -- wie Sie vom vorletzten Winter schrieben, "Sie schämten sich so glücklich zu sein," -- erblüht. Wer war mir ewig gegenwärtig, für wen zitterte ich? für Sie. Ewiger, immer geliebter Freund. Welches war mein Mittelpunkt von Verdruß, über alles Weltunglück? daß es mich noch mehr von Ihnen trennte! Sie mögen sich ver- ändert haben, wie Sie wollen: Sie sind derselbe! für mich derselbe; so wie ich Ihnen nur gegenwärtig werde. Wie sehr, geliebter theurer Freund, lieber alter dicker Gentz! sind Sie's mir! Sind Sie noch so naiv? O! ja. Sie Taubensträßler. Mit dem gelblichen Überrock. O! Ich sehe Sie auch noch wieder! Wie lange, wie sehr ich mich über unsere Trennung gegrämt habe! Dies geschieht gewiß selten: weil selten Men- schen solche Einsicht von einander haben. Dabei weiß ich doch, daß Sie mich vergessen haben: nämlich, daß ich Ihnen gar nicht gegenwärtig bin; aber das thut nichts, das ist nur eine Tournüre Ihres Gemüths. Morgen Mittag reise ich auf zwei Tage nach Magdeburg, und von da nach Leipzig. Dazu habe ich mich mit Gewalt entschlossen; weil ich zu fest und stupid im ewigen Bleiben wurde. Ich bleibe die Messe über dort. Sie schreiben mir dorthin, oder hierher nur durch einen Reisenden. Nicht mit der Post. Es geht nicht! Ostern ist mein letzter Termin, und sollte ich mit einem Bettelsack abge- hen, ich verlasse dies breitstraßige Nest!
An Gentz, in Prag.
Sonntag, den 18. September 1808.
Nie werden Sie mich los! So lange uns Eine Erde trägt. Auch ich bin im Unglück — wie Sie vom vorletzten Winter ſchrieben, „Sie ſchämten ſich ſo glücklich zu ſein,“ — erblüht. Wer war mir ewig gegenwärtig, für wen zitterte ich? für Sie. Ewiger, immer geliebter Freund. Welches war mein Mittelpunkt von Verdruß, über alles Weltunglück? daß es mich noch mehr von Ihnen trennte! Sie mögen ſich ver- ändert haben, wie Sie wollen: Sie ſind derſelbe! für mich derſelbe; ſo wie ich Ihnen nur gegenwärtig werde. Wie ſehr, geliebter theurer Freund, lieber alter dicker Gentz! ſind Sie’s mir! Sind Sie noch ſo naiv? O! ja. Sie Taubenſträßler. Mit dem gelblichen Überrock. O! Ich ſehe Sie auch noch wieder! Wie lange, wie ſehr ich mich über unſere Trennung gegrämt habe! Dies geſchieht gewiß ſelten: weil ſelten Men- ſchen ſolche Einſicht von einander haben. Dabei weiß ich doch, daß Sie mich vergeſſen haben: nämlich, daß ich Ihnen gar nicht gegenwärtig bin; aber das thut nichts, das iſt nur eine Tournüre Ihres Gemüths. Morgen Mittag reiſe ich auf zwei Tage nach Magdeburg, und von da nach Leipzig. Dazu habe ich mich mit Gewalt entſchloſſen; weil ich zu feſt und ſtupid im ewigen Bleiben wurde. Ich bleibe die Meſſe über dort. Sie ſchreiben mir dorthin, oder hierher nur durch einen Reiſenden. Nicht mit der Poſt. Es geht nicht! Oſtern iſt mein letzter Termin, und ſollte ich mit einem Bettelſack abge- hen, ich verlaſſe dies breitſtraßige Neſt!
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An Gentz, in Prag.
Sonntag, den 18. September 1808.
Nie werden Sie mich los! So lange uns Eine Erde
trägt. Auch ich bin im Unglück — wie Sie vom vorletzten
Winter ſchrieben, „Sie ſchämten ſich ſo glücklich zu ſein,“ —
erblüht. Wer war mir ewig gegenwärtig, für wen zitterte
ich? für Sie. Ewiger, immer geliebter Freund. Welches war
mein Mittelpunkt von Verdruß, über alles Weltunglück? daß
es mich noch mehr von Ihnen trennte! Sie mögen ſich ver-
ändert haben, wie Sie wollen: Sie ſind derſelbe! für mich
derſelbe; ſo wie ich Ihnen nur gegenwärtig werde. Wie ſehr,
geliebter theurer Freund, lieber alter dicker Gentz! ſind Sie’s
mir! Sind Sie noch ſo naiv? O! ja. Sie Taubenſträßler.
Mit dem gelblichen Überrock. O! Ich ſehe Sie auch noch
wieder! Wie lange, wie ſehr ich mich über unſere Trennung
gegrämt habe! Dies geſchieht gewiß ſelten: weil ſelten Men-
ſchen ſolche Einſicht von einander haben. Dabei weiß ich doch,
daß Sie mich vergeſſen haben: nämlich, daß ich Ihnen gar
nicht gegenwärtig bin; aber das thut nichts, das iſt nur eine
Tournüre Ihres Gemüths. Morgen Mittag reiſe ich auf zwei
Tage nach Magdeburg, und von da nach Leipzig. Dazu
habe ich mich mit Gewalt entſchloſſen; weil ich zu feſt und
ſtupid im ewigen Bleiben wurde. Ich bleibe die Meſſe über
dort. Sie ſchreiben mir dorthin, oder hierher nur durch einen
Reiſenden. Nicht mit der Poſt. Es geht nicht! Oſtern iſt
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hen, ich verlaſſe dies breitſtraßige Neſt!
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/357>, abgerufen am 25.11.2024.
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