hat sie abgelegt, aber in die schönen, rücklings-bigoten ist sie noch verliebt; und mit Verliebten ist nicht zu traitiren, wissen Sie wohl -- und ich kann's am wenigsten. Hingegen -- ist sie aber, eine der liebenswürdigsten Kreaturen, blond, blau- äugig, mit Physionomie, Wuchs, Grazie, Karakter, Ausdruck, kurz, wenn sie länger in Berlin bliebe, als zwei Tage, so wären Sie den unbequemsten Gast, das sogenannte Herz, auf einmal los.
Denken Sie sich -- wie ich hier lebe; (um diese Gräfin Pachta bin ich hiergeblieben, und um zu brauchen, um Luft, Gesundheit, um viele kleine Ursachen -- Goethe sagt, im Götz, jedes Ding hat ein paar Ursachen --) ich wohne aber nicht bei ihr, sondern neben ihr an, ganz allein mit einem Mäd- chen, esse Mittag und Abend allein, kurz, bin Wind und Wel- len überlassen: und komme mir doch nicht verlassener als zu Hause vor. So verlassen schein' ich mir immer. Ist es Glück, ist es Unglück: ich weiß es selbst nicht. Ich will's indessen für Glück halten -- da man doch alle Tage unglücklich wer- den kann, so ist doch besser, man ist's vorher. Überhaupt sollte man ordentlich meinen, ich sei jetzt glücklich; und ich kann doch nur nicht mehr wünschen; und weiß es giebt kein Glück, will lieber einmal dumm, als in Schmerzensgefühl le- ben, mich wieder gesund werden lassen, und neue Ideen samm- len. Das ist alles. Ich weiß nicht, es ist als wär' vor vie- len Jahren etwas in mir zerbrochen worden, woran ich nun selbst eine boshafte Freude hätte, daß man es doch nun nicht mehr zerbrechen kann, und nicht daran zerren, schlagen; obgleich es nun ein Ort geworden ist, wo ich selbst nicht mehr
hat ſie abgelegt, aber in die ſchönen, rücklings-bigoten iſt ſie noch verliebt; und mit Verliebten iſt nicht zu traitiren, wiſſen Sie wohl — und ich kann’s am wenigſten. Hingegen — iſt ſie aber, eine der liebenswürdigſten Kreaturen, blond, blau- äugig, mit Phyſionomie, Wuchs, Grazie, Karakter, Ausdruck, kurz, wenn ſie länger in Berlin bliebe, als zwei Tage, ſo wären Sie den unbequemſten Gaſt, das ſogenannte Herz, auf einmal los.
Denken Sie ſich — wie ich hier lebe; (um dieſe Gräfin Pachta bin ich hiergeblieben, und um zu brauchen, um Luft, Geſundheit, um viele kleine Urſachen — Goethe ſagt, im Götz, jedes Ding hat ein paar Urſachen —) ich wohne aber nicht bei ihr, ſondern neben ihr an, ganz allein mit einem Mäd- chen, eſſe Mittag und Abend allein, kurz, bin Wind und Wel- len überlaſſen: und komme mir doch nicht verlaſſener als zu Hauſe vor. So verlaſſen ſchein’ ich mir immer. Iſt es Glück, iſt es Unglück: ich weiß es ſelbſt nicht. Ich will’s indeſſen für Glück halten — da man doch alle Tage unglücklich wer- den kann, ſo iſt doch beſſer, man iſt’s vorher. Überhaupt ſollte man ordentlich meinen, ich ſei jetzt glücklich; und ich kann doch nur nicht mehr wünſchen; und weiß es giebt kein Glück, will lieber einmal dumm, als in Schmerzensgefühl le- ben, mich wieder geſund werden laſſen, und neue Ideen ſamm- len. Das iſt alles. Ich weiß nicht, es iſt als wär’ vor vie- len Jahren etwas in mir zerbrochen worden, woran ich nun ſelbſt eine boshafte Freude hätte, daß man es doch nun nicht mehr zerbrechen kann, und nicht daran zerren, ſchlagen; obgleich es nun ein Ort geworden iſt, wo ich ſelbſt nicht mehr
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0160"n="146"/>
hat ſie abgelegt, aber in die ſchönen, rücklings-bigoten iſt ſie<lb/>
noch verliebt; und mit Verliebten iſt nicht zu traitiren, wiſſen<lb/>
Sie wohl — und ich kann’s am wenigſten. <hirendition="#g">Hing</hi>egen —<lb/>
iſt ſie aber, eine der liebenswürdigſten Kreaturen, blond, blau-<lb/>
äugig, mit Phyſionomie, Wuchs, Grazie, Karakter, Ausdruck,<lb/>
kurz, wenn ſie länger in Berlin bliebe, als zwei Tage, ſo<lb/>
wären Sie den unbequemſten Gaſt, das ſogenannte Herz, auf<lb/><hirendition="#g">einmal</hi> los.</p><lb/><p>Denken Sie ſich — wie ich hier lebe; (um dieſe Gräfin<lb/>
Pachta bin ich hiergeblieben, und um zu brauchen, um Luft,<lb/>
Geſundheit, um viele kleine Urſachen — Goethe ſagt, im Götz,<lb/>
jedes Ding hat ein paar Urſachen —) ich wohne aber nicht<lb/><hirendition="#g">bei</hi> ihr, ſondern neben ihr an, ganz allein mit <hirendition="#g">einem</hi> Mäd-<lb/>
chen, eſſe Mittag und Abend allein, kurz, bin Wind und Wel-<lb/>
len überlaſſen: und komme mir doch nicht verlaſſener als zu<lb/>
Hauſe vor. <hirendition="#g">So</hi> verlaſſen ſchein’ ich mir immer. Iſt es Glück,<lb/>
iſt es Unglück: ich weiß es ſelbſt nicht. Ich will’s indeſſen<lb/>
für Glück halten — da man doch alle Tage unglücklich wer-<lb/>
den kann, ſo iſt doch beſſer, man iſt’s vorher. Überhaupt<lb/>ſollte man ordentlich meinen, ich ſei jetzt glücklich; und ich<lb/>
kann doch nur nicht mehr wünſchen; und weiß es giebt kein<lb/>
Glück, will lieber einmal dumm, als in Schmerzensgefühl le-<lb/>
ben, mich wieder geſund werden laſſen, und neue Ideen ſamm-<lb/>
len. Das iſt alles. Ich weiß nicht, es iſt als wär’ vor <hirendition="#g">vie-<lb/>
len Jahren</hi> etwas in mir <hirendition="#g">zerbrochen</hi> worden, woran ich<lb/><hirendition="#g">nun</hi>ſelbſt eine boshafte Freude hätte, daß man es doch nun<lb/>
nicht mehr zerbrechen kann, und nicht daran zerren, ſchlagen;<lb/>
obgleich es nun ein Ort geworden iſt, wo ich ſelbſt nicht mehr<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[146/0160]
hat ſie abgelegt, aber in die ſchönen, rücklings-bigoten iſt ſie
noch verliebt; und mit Verliebten iſt nicht zu traitiren, wiſſen
Sie wohl — und ich kann’s am wenigſten. Hingegen —
iſt ſie aber, eine der liebenswürdigſten Kreaturen, blond, blau-
äugig, mit Phyſionomie, Wuchs, Grazie, Karakter, Ausdruck,
kurz, wenn ſie länger in Berlin bliebe, als zwei Tage, ſo
wären Sie den unbequemſten Gaſt, das ſogenannte Herz, auf
einmal los.
Denken Sie ſich — wie ich hier lebe; (um dieſe Gräfin
Pachta bin ich hiergeblieben, und um zu brauchen, um Luft,
Geſundheit, um viele kleine Urſachen — Goethe ſagt, im Götz,
jedes Ding hat ein paar Urſachen —) ich wohne aber nicht
bei ihr, ſondern neben ihr an, ganz allein mit einem Mäd-
chen, eſſe Mittag und Abend allein, kurz, bin Wind und Wel-
len überlaſſen: und komme mir doch nicht verlaſſener als zu
Hauſe vor. So verlaſſen ſchein’ ich mir immer. Iſt es Glück,
iſt es Unglück: ich weiß es ſelbſt nicht. Ich will’s indeſſen
für Glück halten — da man doch alle Tage unglücklich wer-
den kann, ſo iſt doch beſſer, man iſt’s vorher. Überhaupt
ſollte man ordentlich meinen, ich ſei jetzt glücklich; und ich
kann doch nur nicht mehr wünſchen; und weiß es giebt kein
Glück, will lieber einmal dumm, als in Schmerzensgefühl le-
ben, mich wieder geſund werden laſſen, und neue Ideen ſamm-
len. Das iſt alles. Ich weiß nicht, es iſt als wär’ vor vie-
len Jahren etwas in mir zerbrochen worden, woran ich
nun ſelbſt eine boshafte Freude hätte, daß man es doch nun
nicht mehr zerbrechen kann, und nicht daran zerren, ſchlagen;
obgleich es nun ein Ort geworden iſt, wo ich ſelbſt nicht mehr
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/160>, abgerufen am 15.10.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.