Wenn man nur immer die Geschicklichkeit hätte, wahr sein zu können, so wäre es nicht möglich, sich je schämen zu dürfen; denn man hat sich entweder etwas zu gestehen, was man ändern, oder was man nicht ändern kann. Aber man irrt sich, wenn man glaubt, daß man nicht immer wahr sein dürfe; man hat entweder nur keine Aufmerksamkeit darauf, keine Geschicklichkeit die Wahrheit zu finden, oder am öfter- sten keine Gegenwart des Geistes, sie zu sagen; so lügt man; denn sie nachzuholen, dazu gehört schon eine heroische Tugend, und Fleiß.
Billigkeit, Haß und Vorliebe, wird geübt; aber keine Gerechtigkeit. --
Man lernt spät lügen, und spät die Wahrheit sagen.
Wir hätten uns brauchbar für uns selbst gemacht, wenn wir über das, was rohe Sache in uns ist, einen uneinge- schränkten Willen hätten; und das, was Willen ist, zur un- biegsamen Sache machten. Der Mensch muß sich zur Wand, zu etwas Undurchdringlichem, ganz nach seiner Willkür machen können, damit er mit den Sachen und mit den Menschen, die sich als Sachen aufwerfen, kämpfen kann.
So lange wir nicht auch das Unrecht, welches uns ge- schieht und uns die kühlen brennenden Thränen auspreßt, auch für Recht halten, sind wir noch in der dicksten Finster- niß, ohne Dämmerung.
Wenn
Wenn man nur immer die Geſchicklichkeit hätte, wahr ſein zu können, ſo wäre es nicht möglich, ſich je ſchämen zu dürfen; denn man hat ſich entweder etwas zu geſtehen, was man ändern, oder was man nicht ändern kann. Aber man irrt ſich, wenn man glaubt, daß man nicht immer wahr ſein dürfe; man hat entweder nur keine Aufmerkſamkeit darauf, keine Geſchicklichkeit die Wahrheit zu finden, oder am öfter- ſten keine Gegenwart des Geiſtes, ſie zu ſagen; ſo lügt man; denn ſie nachzuholen, dazu gehört ſchon eine heroiſche Tugend, und Fleiß.
Billigkeit, Haß und Vorliebe, wird geübt; aber keine Gerechtigkeit. —
Man lernt ſpät lügen, und ſpät die Wahrheit ſagen.
Wir hätten uns brauchbar für uns ſelbſt gemacht, wenn wir über das, was rohe Sache in uns iſt, einen uneinge- ſchränkten Willen hätten; und das, was Willen iſt, zur un- biegſamen Sache machten. Der Menſch muß ſich zur Wand, zu etwas Undurchdringlichem, ganz nach ſeiner Willkür machen können, damit er mit den Sachen und mit den Menſchen, die ſich als Sachen aufwerfen, kämpfen kann.
So lange wir nicht auch das Unrecht, welches uns ge- ſchieht und uns die kühlen brennenden Thränen auspreßt, auch für Recht halten, ſind wir noch in der dickſten Finſter- niß, ohne Dämmerung.
Wenn
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Wenn man nur immer die Geſchicklichkeit hätte, wahr
ſein zu können, ſo wäre es nicht möglich, ſich je ſchämen zu
dürfen; denn man hat ſich entweder etwas zu geſtehen, was
man ändern, oder was man nicht ändern kann. Aber man
irrt ſich, wenn man glaubt, daß man nicht immer wahr ſein
dürfe; man hat entweder nur keine Aufmerkſamkeit darauf,
keine Geſchicklichkeit die Wahrheit zu finden, oder am öfter-
ſten keine Gegenwart des Geiſtes, ſie zu ſagen; ſo lügt man;
denn ſie nachzuholen, dazu gehört ſchon eine heroiſche Tugend,
und Fleiß.
Billigkeit, Haß und Vorliebe, wird geübt; aber keine
Gerechtigkeit. —
Man lernt ſpät lügen, und ſpät die Wahrheit ſagen.
Wir hätten uns brauchbar für uns ſelbſt gemacht, wenn
wir über das, was rohe Sache in uns iſt, einen uneinge-
ſchränkten Willen hätten; und das, was Willen iſt, zur un-
biegſamen Sache machten. Der Menſch muß ſich zur Wand,
zu etwas Undurchdringlichem, ganz nach ſeiner Willkür machen
können, damit er mit den Sachen und mit den Menſchen,
die ſich als Sachen aufwerfen, kämpfen kann.
So lange wir nicht auch das Unrecht, welches uns ge-
ſchieht und uns die kühlen brennenden Thränen auspreßt,
auch für Recht halten, ſind wir noch in der dickſten Finſter-
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Varnhagen von Ense, Rahel: Rahel. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_rahel01_1834/206>, abgerufen am 29.11.2024.
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