sie habe nie zum Vorwurfe gereichen können, sobald eine neue Schöpfung dabei stattfinde, das letztere sei aber bei der Genoveva, dem Oktavianus und vielen andern, ganz unläugbar. Schließlich konnte ich Bern¬ hardi's Wort anführen, der in den Zeiten feindlicher Spannung einst mit edler Aufrichtigkeit mir das Be¬ kenntniß abgelegt, er möge es bedenken wie er wolle, er möge sich fragen her und hin, immer bleibe er von der tiefen Wahrheit durchdrungen, immer trete ihm neu die Ueberzeugung auf, daß von allen Anführern der romantischen Schule doch nur Tieck der wahrhaft geniale und der sei, von dem man sagen könne, er trage die Gottheit im Busen! Jean Paul wurde nachsinnend, es vergegenwärtigten sich ihm die Vorzüge, sein Herz neigte sich ohnehin lieber zum Anerkennen und Bewun¬ dern, und so geschah es bald, wie mir schon gestern mehrmals begegnet war, daß er bei ganz andern Er¬ gebnissen anlangte, als der Beginn hatte erwarten lassen; die Mißstimmung mit allen ihren Gründen und Antrieben verschwand, und Tieck blieb uns ein Dich¬ ter, ein hoher und trefflicher! --
Diese Biegsamkeit in Jean Pauls Urtheilen, diese Eingeschlossenheit in bestimmte Gedankenzüge, diese klei¬ nen Scheuleder an den Seiten, die ihn nur seine grade Straße vor sich hinsehen lassen, diese augenblickliche Beschränkung und Einseitigkeit, alles dies hängt un¬ streitig mit seinen besten Eigenschaften zusammen, und
ſie habe nie zum Vorwurfe gereichen koͤnnen, ſobald eine neue Schoͤpfung dabei ſtattfinde, das letztere ſei aber bei der Genoveva, dem Oktavianus und vielen andern, ganz unlaͤugbar. Schließlich konnte ich Bern¬ hardi's Wort anfuͤhren, der in den Zeiten feindlicher Spannung einſt mit edler Aufrichtigkeit mir das Be¬ kenntniß abgelegt, er moͤge es bedenken wie er wolle, er moͤge ſich fragen her und hin, immer bleibe er von der tiefen Wahrheit durchdrungen, immer trete ihm neu die Ueberzeugung auf, daß von allen Anfuͤhrern der romantiſchen Schule doch nur Tieck der wahrhaft geniale und der ſei, von dem man ſagen koͤnne, er trage die Gottheit im Buſen! Jean Paul wurde nachſinnend, es vergegenwaͤrtigten ſich ihm die Vorzuͤge, ſein Herz neigte ſich ohnehin lieber zum Anerkennen und Bewun¬ dern, und ſo geſchah es bald, wie mir ſchon geſtern mehrmals begegnet war, daß er bei ganz andern Er¬ gebniſſen anlangte, als der Beginn hatte erwarten laſſen; die Mißſtimmung mit allen ihren Gruͤnden und Antrieben verſchwand, und Tieck blieb uns ein Dich¬ ter, ein hoher und trefflicher! —
Dieſe Biegſamkeit in Jean Pauls Urtheilen, dieſe Eingeſchloſſenheit in beſtimmte Gedankenzuͤge, dieſe klei¬ nen Scheuleder an den Seiten, die ihn nur ſeine grade Straße vor ſich hinſehen laſſen, dieſe augenblickliche Beſchraͤnkung und Einſeitigkeit, alles dies haͤngt un¬ ſtreitig mit ſeinen beſten Eigenſchaften zuſammen, und
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ſie habe nie zum Vorwurfe gereichen koͤnnen, ſobald
eine neue Schoͤpfung dabei ſtattfinde, das letztere ſei
aber bei der Genoveva, dem Oktavianus und vielen
andern, ganz unlaͤugbar. Schließlich konnte ich Bern¬
hardi's Wort anfuͤhren, der in den Zeiten feindlicher
Spannung einſt mit edler Aufrichtigkeit mir das Be¬
kenntniß abgelegt, er moͤge es bedenken wie er wolle,
er moͤge ſich fragen her und hin, immer bleibe er von
der tiefen Wahrheit durchdrungen, immer trete ihm neu
die Ueberzeugung auf, daß von allen Anfuͤhrern der
romantiſchen Schule doch nur Tieck der wahrhaft geniale
und der ſei, von dem man ſagen koͤnne, er trage die
Gottheit im Buſen! Jean Paul wurde nachſinnend,
es vergegenwaͤrtigten ſich ihm die Vorzuͤge, ſein Herz
neigte ſich ohnehin lieber zum Anerkennen und Bewun¬
dern, und ſo geſchah es bald, wie mir ſchon geſtern
mehrmals begegnet war, daß er bei ganz andern Er¬
gebniſſen anlangte, als der Beginn hatte erwarten
laſſen; die Mißſtimmung mit allen ihren Gruͤnden und
Antrieben verſchwand, und Tieck blieb uns ein Dich¬
ter, ein hoher und trefflicher! —
Dieſe Biegſamkeit in Jean Pauls Urtheilen, dieſe
Eingeſchloſſenheit in beſtimmte Gedankenzuͤge, dieſe klei¬
nen Scheuleder an den Seiten, die ihn nur ſeine grade
Straße vor ſich hinſehen laſſen, dieſe augenblickliche
Beſchraͤnkung und Einſeitigkeit, alles dies haͤngt un¬
ſtreitig mit ſeinen beſten Eigenſchaften zuſammen, und
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/92>, abgerufen am 28.11.2024.
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