Gegenden und Landschaften, denen in der That die Meisterhaftigkeit nicht abzusprechen ist. Wie aber die Sache anzugreifen sei, welche technische Vortheile es dafür gebe, darüber stritten wir eine Weile. Endlich sagte Jean Paul sehr sinnvoll, um eine Gegend dichterisch aufzufassen, dürfe der Dichter nicht bei ihr anfangen, sondern er müsse die Brust eines Menschen zur camera obscura machen, und in dieser die Gegend anschauen, dann werde sie gewiß von lebendiger Wirkung sein; nichts aber sei todter, als wenn der sich neugierig um¬ sehende Reisende nur den sinnlichen Stoff als solchen erzähle und beschreibe. Jean Paul verlangte, der Dich¬ ter solle auch wirkliche Gegenden doch immer nur aus der Phantasie beschreiben, die allein könne das Richtige und Wahre liefern. So habe er selber schweizerische und italiänische Gegenden, letztere z. B. im "Titan," sehr richtig -- wenigstens die bewährtesten Kenner sagten es -- geschildert, ohne sie je gesehen zu haben, und auch in Nürnberg, dessen Oertlichkeit in den "Palinge¬ nesien" bis zum kleinsten Einzelnen vorkomme, sei er erst lange nachher, und auch da nur auf einen halben Vormittag, gewesen. Mir schien eine tiefe Wahrheit in dieser Paradoxie zu liegen, der doch nicht unbedingt beizustimmen war; gilt für das Bild ein anderes Gesetz, als Messen und Aufzählen, so muß doch die Phantasie, um Bilder einer bestimmten Wirklichkeit hervorzurufen,
Gegenden und Landſchaften, denen in der That die Meiſterhaftigkeit nicht abzuſprechen iſt. Wie aber die Sache anzugreifen ſei, welche techniſche Vortheile es dafuͤr gebe, daruͤber ſtritten wir eine Weile. Endlich ſagte Jean Paul ſehr ſinnvoll, um eine Gegend dichteriſch aufzufaſſen, duͤrfe der Dichter nicht bei ihr anfangen, ſondern er muͤſſe die Bruſt eines Menſchen zur camera obscura machen, und in dieſer die Gegend anſchauen, dann werde ſie gewiß von lebendiger Wirkung ſein; nichts aber ſei todter, als wenn der ſich neugierig um¬ ſehende Reiſende nur den ſinnlichen Stoff als ſolchen erzaͤhle und beſchreibe. Jean Paul verlangte, der Dich¬ ter ſolle auch wirkliche Gegenden doch immer nur aus der Phantaſie beſchreiben, die allein koͤnne das Richtige und Wahre liefern. So habe er ſelber ſchweizeriſche und italiaͤniſche Gegenden, letztere z. B. im „Titan,“ ſehr richtig — wenigſtens die bewaͤhrteſten Kenner ſagten es — geſchildert, ohne ſie je geſehen zu haben, und auch in Nuͤrnberg, deſſen Oertlichkeit in den „Palinge¬ neſien“ bis zum kleinſten Einzelnen vorkomme, ſei er erſt lange nachher, und auch da nur auf einen halben Vormittag, geweſen. Mir ſchien eine tiefe Wahrheit in dieſer Paradoxie zu liegen, der doch nicht unbedingt beizuſtimmen war; gilt fuͤr das Bild ein anderes Geſetz, als Meſſen und Aufzaͤhlen, ſo muß doch die Phantaſie, um Bilder einer beſtimmten Wirklichkeit hervorzurufen,
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Gegenden und Landſchaften, denen in der That die
Meiſterhaftigkeit nicht abzuſprechen iſt. Wie aber die
Sache anzugreifen ſei, welche techniſche Vortheile es
dafuͤr gebe, daruͤber ſtritten wir eine Weile. Endlich
ſagte Jean Paul ſehr ſinnvoll, um eine Gegend dichteriſch
aufzufaſſen, duͤrfe der Dichter nicht bei ihr anfangen,
ſondern er muͤſſe die Bruſt eines Menſchen zur camera
obscura machen, und in dieſer die Gegend anſchauen,
dann werde ſie gewiß von lebendiger Wirkung ſein;
nichts aber ſei todter, als wenn der ſich neugierig um¬
ſehende Reiſende nur den ſinnlichen Stoff als ſolchen
erzaͤhle und beſchreibe. Jean Paul verlangte, der Dich¬
ter ſolle auch wirkliche Gegenden doch immer nur aus
der Phantaſie beſchreiben, die allein koͤnne das Richtige
und Wahre liefern. So habe er ſelber ſchweizeriſche
und italiaͤniſche Gegenden, letztere z. B. im „Titan,“
ſehr richtig — wenigſtens die bewaͤhrteſten Kenner ſagten
es — geſchildert, ohne ſie je geſehen zu haben, und
auch in Nuͤrnberg, deſſen Oertlichkeit in den „Palinge¬
neſien“ bis zum kleinſten Einzelnen vorkomme, ſei er
erſt lange nachher, und auch da nur auf einen halben
Vormittag, geweſen. Mir ſchien eine tiefe Wahrheit
in dieſer Paradoxie zu liegen, der doch nicht unbedingt
beizuſtimmen war; gilt fuͤr das Bild ein anderes Geſetz,
als Meſſen und Aufzaͤhlen, ſo muß doch die Phantaſie,
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 3. Mannheim, 1838, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten03_1838/86>, abgerufen am 28.11.2024.
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