und er muß sich in die Häßliche, die er nur zu heira¬ then dachte, leidenschaftlich verlieben. Sie aber, die ihn schon liebte, als er sich und sie noch mißkannte, muß ihn verachten, da man ihr seine Denkart enthüllt; und dieser Keim des Unheils entwickelt sich nun fort und fort, unter stets erneuertem Verkennen und Leiden, zu unwiderruflicher Trennung, zum völligen Untergange. Der Verfasser hat von beiden Motiven, der ächten Liebe, welche das Herz eines sich selbst herzlos glaubenden Mannes ergreift, und dem Mißtrauen eines Mädchens, die das Erwünschte in dem falschen Scheine nicht zu erkennen vermag, allen reichsten Vortheil gezogen, und ein großes, tiefes, verhängnißvolles inneres Leben an den Tag gestellt. Wo die äußere Welt der Gesellig¬ keit, ihre Bewegungen und Ränke eingreifen, finden wir die Schilderung oft allzu grell, die Personen zu sehr in Träger bestimmter Richtungen und Eigenheiten verwandelt, aber die einzelnen Zustände wahr und leben¬ dig, die Bilder der Zeit und ihrer Verhältnisse in spre¬ chenden Zügen vortrefflich ausgedrückt. Von besonderem Werthe ist das Gemälde der Normandie, des landschaft¬ lichen Karakters dieser Provinz, und der Art und Sit¬ ten ihrer Einwohner. Der Verfasser, für das alte Frankreich gestimmt, verläugnet keineswegs die traurige Rolle, welche dieses in der unreinen Vertretung spielt, die sich demselben im Gemisch und Kampfe der Neue¬ rungen aufgedrängt hat. Er verehrt das Königthum,
und er muß ſich in die Haͤßliche, die er nur zu heira¬ then dachte, leidenſchaftlich verlieben. Sie aber, die ihn ſchon liebte, als er ſich und ſie noch mißkannte, muß ihn verachten, da man ihr ſeine Denkart enthuͤllt; und dieſer Keim des Unheils entwickelt ſich nun fort und fort, unter ſtets erneuertem Verkennen und Leiden, zu unwiderruflicher Trennung, zum voͤlligen Untergange. Der Verfaſſer hat von beiden Motiven, der aͤchten Liebe, welche das Herz eines ſich ſelbſt herzlos glaubenden Mannes ergreift, und dem Mißtrauen eines Maͤdchens, die das Erwuͤnſchte in dem falſchen Scheine nicht zu erkennen vermag, allen reichſten Vortheil gezogen, und ein großes, tiefes, verhaͤngnißvolles inneres Leben an den Tag geſtellt. Wo die aͤußere Welt der Geſellig¬ keit, ihre Bewegungen und Raͤnke eingreifen, finden wir die Schilderung oft allzu grell, die Perſonen zu ſehr in Traͤger beſtimmter Richtungen und Eigenheiten verwandelt, aber die einzelnen Zuſtaͤnde wahr und leben¬ dig, die Bilder der Zeit und ihrer Verhaͤltniſſe in ſpre¬ chenden Zuͤgen vortrefflich ausgedruͤckt. Von beſonderem Werthe iſt das Gemaͤlde der Normandie, des landſchaft¬ lichen Karakters dieſer Provinz, und der Art und Sit¬ ten ihrer Einwohner. Der Verfaſſer, fuͤr das alte Frankreich geſtimmt, verlaͤugnet keineswegs die traurige Rolle, welche dieſes in der unreinen Vertretung ſpielt, die ſich demſelben im Gemiſch und Kampfe der Neue¬ rungen aufgedraͤngt hat. Er verehrt das Koͤnigthum,
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und er muß ſich in die Haͤßliche, die er nur zu heira¬
then dachte, leidenſchaftlich verlieben. Sie aber, die ihn
ſchon liebte, als er ſich und ſie noch mißkannte, muß
ihn verachten, da man ihr ſeine Denkart enthuͤllt; und
dieſer Keim des Unheils entwickelt ſich nun fort und
fort, unter ſtets erneuertem Verkennen und Leiden, zu
unwiderruflicher Trennung, zum voͤlligen Untergange.
Der Verfaſſer hat von beiden Motiven, der aͤchten Liebe,
welche das Herz eines ſich ſelbſt herzlos glaubenden
Mannes ergreift, und dem Mißtrauen eines Maͤdchens,
die das Erwuͤnſchte in dem falſchen Scheine nicht zu
erkennen vermag, allen reichſten Vortheil gezogen, und
ein großes, tiefes, verhaͤngnißvolles inneres Leben an
den Tag geſtellt. Wo die aͤußere Welt der Geſellig¬
keit, ihre Bewegungen und Raͤnke eingreifen, finden
wir die Schilderung oft allzu grell, die Perſonen zu
ſehr in Traͤger beſtimmter Richtungen und Eigenheiten
verwandelt, aber die einzelnen Zuſtaͤnde wahr und leben¬
dig, die Bilder der Zeit und ihrer Verhaͤltniſſe in ſpre¬
chenden Zuͤgen vortrefflich ausgedruͤckt. Von beſonderem
Werthe iſt das Gemaͤlde der Normandie, des landſchaft¬
lichen Karakters dieſer Provinz, und der Art und Sit¬
ten ihrer Einwohner. Der Verfaſſer, fuͤr das alte
Frankreich geſtimmt, verlaͤugnet keineswegs die traurige
Rolle, welche dieſes in der unreinen Vertretung ſpielt,
die ſich demſelben im Gemiſch und Kampfe der Neue¬
rungen aufgedraͤngt hat. Er verehrt das Koͤnigthum,
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 452. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/466>, abgerufen am 22.11.2024.
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