ein dritter Autor gleichstellen läßt, so gebührt doch der Frau von Guyon unter den Andern unbestreitbar ein erster Platz; selbst der treffliche Jung-Stilling muß ihr an geistiger Eigenheit und einem seltsamen Reize weit nachstehn, obwohl er mehr äußeres Leben mit darstellt. Diese wunderbare Frau, in deren Dasein alles, was im Menschen leibt und lebt, sich vergeistigte, deren Sinne, nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was sonst nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemüth durch Ueberreizung seine zartesten Anlagen bis zur Heldenstärke trieb, ist ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen Enthusiasmus. In diesem Gebiete, wo wir leider so oft Schwächlichkeit und Albernheit ihr trübes Unwesen treiben sehn, erscheint sie mit Licht und Kraft, mit Philosophischem Scharfsinn und ächter Begeisterung, nicht als verdrehte, unsichre Kopfhängerin, sondern als kühne, freie Virtuosin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬ bischof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet und verfolgt von dem gewaltigen Bischof von Meaux, dem großen Bossuet; auch Frau von Maintenon und Ludwig der Vierzehnte selbst nehmen an diesen Dingen nahen Antheil, es entwickelt sich ein großer Kampf der innerlichen Geistesgewalt mit den äußerlichen Mächten der Kirche und des Staats. Die süße Liebesinnigkeit, welche die edle Frau beseelt, ihre Herzenskraft, welche jene in seltsamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬ den jetzt leichteres Verständniß finden, als damals, wo
ein dritter Autor gleichſtellen laͤßt, ſo gebuͤhrt doch der Frau von Guyon unter den Andern unbeſtreitbar ein erſter Platz; ſelbſt der treffliche Jung-Stilling muß ihr an geiſtiger Eigenheit und einem ſeltſamen Reize weit nachſtehn, obwohl er mehr aͤußeres Leben mit darſtellt. Dieſe wunderbare Frau, in deren Daſein alles, was im Menſchen leibt und lebt, ſich vergeiſtigte, deren Sinne, nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was ſonſt nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemuͤth durch Ueberreizung ſeine zarteſten Anlagen bis zur Heldenſtaͤrke trieb, iſt ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen Enthuſiasmus. In dieſem Gebiete, wo wir leider ſo oft Schwaͤchlichkeit und Albernheit ihr truͤbes Unweſen treiben ſehn, erſcheint ſie mit Licht und Kraft, mit Philoſophiſchem Scharfſinn und aͤchter Begeiſterung, nicht als verdrehte, unſichre Kopfhaͤngerin, ſondern als kuͤhne, freie Virtuoſin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬ biſchof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet und verfolgt von dem gewaltigen Biſchof von Meaux, dem großen Boſſuet; auch Frau von Maintenon und Ludwig der Vierzehnte ſelbſt nehmen an dieſen Dingen nahen Antheil, es entwickelt ſich ein großer Kampf der innerlichen Geiſtesgewalt mit den aͤußerlichen Maͤchten der Kirche und des Staats. Die ſuͤße Liebesinnigkeit, welche die edle Frau beſeelt, ihre Herzenskraft, welche jene in ſeltſamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬ den jetzt leichteres Verſtaͤndniß finden, als damals, wo
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0380"n="366"/>
ein dritter Autor gleichſtellen laͤßt, ſo gebuͤhrt doch der<lb/>
Frau von Guyon unter den Andern unbeſtreitbar ein<lb/>
erſter Platz; ſelbſt der treffliche Jung-Stilling muß ihr<lb/>
an geiſtiger Eigenheit und einem ſeltſamen Reize weit<lb/>
nachſtehn, obwohl er mehr aͤußeres Leben mit darſtellt.<lb/>
Dieſe wunderbare Frau, in deren Daſein alles, was im<lb/>
Menſchen leibt und lebt, ſich vergeiſtigte, deren Sinne,<lb/>
nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was ſonſt<lb/>
nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemuͤth durch<lb/>
Ueberreizung ſeine zarteſten Anlagen bis zur Heldenſtaͤrke<lb/>
trieb, iſt ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen<lb/>
Enthuſiasmus. In dieſem Gebiete, wo wir leider ſo<lb/>
oft Schwaͤchlichkeit und Albernheit ihr truͤbes Unweſen<lb/>
treiben ſehn, erſcheint ſie mit Licht und Kraft, mit<lb/>
Philoſophiſchem Scharfſinn und aͤchter Begeiſterung, nicht<lb/>
als verdrehte, unſichre Kopfhaͤngerin, ſondern als kuͤhne,<lb/>
freie Virtuoſin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬<lb/>
biſchof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet<lb/>
und verfolgt von dem gewaltigen Biſchof von Meaux,<lb/>
dem großen Boſſuet; auch Frau von Maintenon und<lb/>
Ludwig der Vierzehnte ſelbſt nehmen an dieſen Dingen<lb/>
nahen Antheil, es entwickelt ſich ein großer Kampf der<lb/>
innerlichen Geiſtesgewalt mit den aͤußerlichen Maͤchten<lb/>
der Kirche und des Staats. Die ſuͤße Liebesinnigkeit,<lb/>
welche die edle Frau beſeelt, ihre Herzenskraft, welche<lb/>
jene in ſeltſamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬<lb/>
den jetzt leichteres Verſtaͤndniß finden, als damals, wo<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[366/0380]
ein dritter Autor gleichſtellen laͤßt, ſo gebuͤhrt doch der
Frau von Guyon unter den Andern unbeſtreitbar ein
erſter Platz; ſelbſt der treffliche Jung-Stilling muß ihr
an geiſtiger Eigenheit und einem ſeltſamen Reize weit
nachſtehn, obwohl er mehr aͤußeres Leben mit darſtellt.
Dieſe wunderbare Frau, in deren Daſein alles, was im
Menſchen leibt und lebt, ſich vergeiſtigte, deren Sinne,
nach innen gewandt, dort alles wiederfanden, was ſonſt
nur die Außenwelt zu geben pflegt, deren Gemuͤth durch
Ueberreizung ſeine zarteſten Anlagen bis zur Heldenſtaͤrke
trieb, iſt ein leuchtendes Meteor im Gebiete des frommen
Enthuſiasmus. In dieſem Gebiete, wo wir leider ſo
oft Schwaͤchlichkeit und Albernheit ihr truͤbes Unweſen
treiben ſehn, erſcheint ſie mit Licht und Kraft, mit
Philoſophiſchem Scharfſinn und aͤchter Begeiſterung, nicht
als verdrehte, unſichre Kopfhaͤngerin, ſondern als kuͤhne,
freie Virtuoſin, geliebt und verehrt von dem edlen Erz¬
biſchof von Cambray, dem herrlichen Fenelon, befehdet
und verfolgt von dem gewaltigen Biſchof von Meaux,
dem großen Boſſuet; auch Frau von Maintenon und
Ludwig der Vierzehnte ſelbſt nehmen an dieſen Dingen
nahen Antheil, es entwickelt ſich ein großer Kampf der
innerlichen Geiſtesgewalt mit den aͤußerlichen Maͤchten
der Kirche und des Staats. Die ſuͤße Liebesinnigkeit,
welche die edle Frau beſeelt, ihre Herzenskraft, welche
jene in ſeltſamen Bildern und Worten hervortreibt, wer¬
den jetzt leichteres Verſtaͤndniß finden, als damals, wo
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 366. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/380>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.