Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

Verhältnisse zurücklegen, in welchen Jung-Stilling uns
hier wiederbegegnen muß. Mit diesen schweren, durch
die angeknüpften Betrachtungen des Dichters zu den
wichtigsten Bezügen erhobenen, und sogar im eignen
Stoffe noch erheiterten Drangsalen schließt das sechs¬
zehnte Buch.

In dem siebzehnten Buche blüht, leuchtet und
athmet ganz das Verhältniß zu Lilli. Wir haben den
Dichter von den frühsten Empfindungen, für welche
das unschuldige Gretchen ihm Gegenstand sein mußte,
mit Antheil und Mitgefühl zu den höheren Stufen
begleitet, die nach und nach seine Neigung erstieg, und
wir sind durch Friederikens liebliche Erscheinung mit¬
schuldig der Unbeständigkeit geworden, die man dem
Erlöschen oder Aufgeben früherer Neigung zum Vor¬
wurfe zu machen pflegt. Nicht ganz so hell, und also
minder gerechtfertigt, zeigten sich die ungenannten und
wie es scheint in einiger Mischung durcheinder wogen¬
den Leidenschaften, gegen welche Friederikens Bild zurück¬
weichen mußte, und aus denen die Werther'schen Stim¬
mungen sich nährten. Dagegen tritt nunmehr diese
neue Leidenschaft in allem Glanz und in aller Kraft
ihres vollen Uebergewichts und ihrer ureigenen Berech¬
tigung auf. Wie gegen die aufhebende Sonne der schönste
Stern, so muß gegen Lilli selbst Friederike dahinschwin¬
den, und da von Pflichten und Verbindlichkeiten, welche
schon außerhalb des Gebietes der Neigung liegen und

Verhaͤltniſſe zuruͤcklegen, in welchen Jung-Stilling uns
hier wiederbegegnen muß. Mit dieſen ſchweren, durch
die angeknuͤpften Betrachtungen des Dichters zu den
wichtigſten Bezuͤgen erhobenen, und ſogar im eignen
Stoffe noch erheiterten Drangſalen ſchließt das ſechs¬
zehnte Buch.

In dem ſiebzehnten Buche bluͤht, leuchtet und
athmet ganz das Verhaͤltniß zu Lilli. Wir haben den
Dichter von den fruͤhſten Empfindungen, fuͤr welche
das unſchuldige Gretchen ihm Gegenſtand ſein mußte,
mit Antheil und Mitgefuͤhl zu den hoͤheren Stufen
begleitet, die nach und nach ſeine Neigung erſtieg, und
wir ſind durch Friederikens liebliche Erſcheinung mit¬
ſchuldig der Unbeſtaͤndigkeit geworden, die man dem
Erloͤſchen oder Aufgeben fruͤherer Neigung zum Vor¬
wurfe zu machen pflegt. Nicht ganz ſo hell, und alſo
minder gerechtfertigt, zeigten ſich die ungenannten und
wie es ſcheint in einiger Miſchung durcheinder wogen¬
den Leidenſchaften, gegen welche Friederikens Bild zuruͤck¬
weichen mußte, und aus denen die Werther’ſchen Stim¬
mungen ſich naͤhrten. Dagegen tritt nunmehr dieſe
neue Leidenſchaft in allem Glanz und in aller Kraft
ihres vollen Uebergewichts und ihrer ureigenen Berech¬
tigung auf. Wie gegen die aufhebende Sonne der ſchoͤnſte
Stern, ſo muß gegen Lilli ſelbſt Friederike dahinſchwin¬
den, und da von Pflichten und Verbindlichkeiten, welche
ſchon außerhalb des Gebietes der Neigung liegen und

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0329" n="315"/>
Verha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e zuru&#x0364;cklegen, in welchen Jung-Stilling uns<lb/>
hier wiederbegegnen muß. Mit die&#x017F;en &#x017F;chweren, durch<lb/>
die angeknu&#x0364;pften Betrachtungen des Dichters zu den<lb/>
wichtig&#x017F;ten Bezu&#x0364;gen erhobenen, und &#x017F;ogar im eignen<lb/>
Stoffe noch erheiterten Drang&#x017F;alen &#x017F;chließt das &#x017F;echs¬<lb/>
zehnte Buch.</p><lb/>
          <p>In dem &#x017F;iebzehnten Buche blu&#x0364;ht, leuchtet und<lb/>
athmet ganz das Verha&#x0364;ltniß zu Lilli. Wir haben den<lb/>
Dichter von den fru&#x0364;h&#x017F;ten Empfindungen, fu&#x0364;r welche<lb/>
das un&#x017F;chuldige Gretchen ihm Gegen&#x017F;tand &#x017F;ein mußte,<lb/>
mit Antheil und Mitgefu&#x0364;hl zu den ho&#x0364;heren Stufen<lb/>
begleitet, die nach und nach &#x017F;eine Neigung er&#x017F;tieg, und<lb/>
wir &#x017F;ind durch Friederikens liebliche Er&#x017F;cheinung mit¬<lb/>
&#x017F;chuldig der Unbe&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit geworden, die man dem<lb/>
Erlo&#x0364;&#x017F;chen oder Aufgeben fru&#x0364;herer Neigung zum Vor¬<lb/>
wurfe zu machen pflegt. Nicht ganz &#x017F;o hell, und al&#x017F;o<lb/>
minder gerechtfertigt, zeigten &#x017F;ich die ungenannten und<lb/>
wie es &#x017F;cheint in einiger Mi&#x017F;chung durcheinder wogen¬<lb/>
den Leiden&#x017F;chaften, gegen welche Friederikens Bild zuru&#x0364;ck¬<lb/>
weichen mußte, und aus denen die Werther&#x2019;&#x017F;chen Stim¬<lb/>
mungen &#x017F;ich na&#x0364;hrten. Dagegen tritt nunmehr die&#x017F;e<lb/>
neue Leiden&#x017F;chaft in allem Glanz und in aller Kraft<lb/>
ihres vollen Uebergewichts und ihrer ureigenen Berech¬<lb/>
tigung auf. Wie gegen die aufhebende Sonne der &#x017F;cho&#x0364;n&#x017F;te<lb/>
Stern, &#x017F;o muß gegen Lilli &#x017F;elb&#x017F;t Friederike dahin&#x017F;chwin¬<lb/>
den, und da von Pflichten und Verbindlichkeiten, welche<lb/>
&#x017F;chon außerhalb des Gebietes der Neigung liegen und<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[315/0329] Verhaͤltniſſe zuruͤcklegen, in welchen Jung-Stilling uns hier wiederbegegnen muß. Mit dieſen ſchweren, durch die angeknuͤpften Betrachtungen des Dichters zu den wichtigſten Bezuͤgen erhobenen, und ſogar im eignen Stoffe noch erheiterten Drangſalen ſchließt das ſechs¬ zehnte Buch. In dem ſiebzehnten Buche bluͤht, leuchtet und athmet ganz das Verhaͤltniß zu Lilli. Wir haben den Dichter von den fruͤhſten Empfindungen, fuͤr welche das unſchuldige Gretchen ihm Gegenſtand ſein mußte, mit Antheil und Mitgefuͤhl zu den hoͤheren Stufen begleitet, die nach und nach ſeine Neigung erſtieg, und wir ſind durch Friederikens liebliche Erſcheinung mit¬ ſchuldig der Unbeſtaͤndigkeit geworden, die man dem Erloͤſchen oder Aufgeben fruͤherer Neigung zum Vor¬ wurfe zu machen pflegt. Nicht ganz ſo hell, und alſo minder gerechtfertigt, zeigten ſich die ungenannten und wie es ſcheint in einiger Miſchung durcheinder wogen¬ den Leidenſchaften, gegen welche Friederikens Bild zuruͤck¬ weichen mußte, und aus denen die Werther’ſchen Stim¬ mungen ſich naͤhrten. Dagegen tritt nunmehr dieſe neue Leidenſchaft in allem Glanz und in aller Kraft ihres vollen Uebergewichts und ihrer ureigenen Berech¬ tigung auf. Wie gegen die aufhebende Sonne der ſchoͤnſte Stern, ſo muß gegen Lilli ſelbſt Friederike dahinſchwin¬ den, und da von Pflichten und Verbindlichkeiten, welche ſchon außerhalb des Gebietes der Neigung liegen und

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/329
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/329>, abgerufen am 22.11.2024.