hier überschwänglich die edelste Nahrung gefunden und aufgezehrt; andres Leid und andrer Untergang erschien dagegen gering und kaum noch mitleidswerth. Die Briefe und Tageblätter, welche mir aus einziger Gunst des Vertrauens zum Lesen gegeben wurden, enthielten eine Lebensfülle, an welche das, was von Goethe und Rousseau in dieser Art bekannt ist, nur selten hinan¬ reicht; so mögen die Briefe an Frau von Houdetot ge¬ wesen sein, deren Rousseau selbst als unvergleichbar mit allem andern erwähnt, ein solches Feuer der Wirk¬ lichkeit mag auch in ihnen gebrannt haben! Diese Papiere, nachdem sie lange in meiner Verwahrung ge¬ wesen, sind leider im Jahre 1813 verloren und wahr¬ scheinlich vernichtet worden, bis auf wenige, die kein genügendes Bild geben. Es scheint, als solle derglei¬ chen nicht zum litterarischen Denkmal werden, sondern heimgehen mit den Personen, denen es unmittelbar gehörte. Nächte lang saß ich über diesen Blättern, ich lernte kennen, wovon ich früher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr, was in meiner Ahnung geschlummert, wurde mir zur wachen Anschauung. Nur das dünkte mich ein Traum, daß ich zu diesen Schriften gekom¬ men war, und an solchem Dasein so nahen Antheil gewann.
Die Fülle und Kraft persönlicher Lebensentwicklung waren mit der Schönheit und Erhebung dichterischen und philosophischen Geistlebens in engem Bündnisse, sie
hier uͤberſchwaͤnglich die edelſte Nahrung gefunden und aufgezehrt; andres Leid und andrer Untergang erſchien dagegen gering und kaum noch mitleidswerth. Die Briefe und Tageblaͤtter, welche mir aus einziger Gunſt des Vertrauens zum Leſen gegeben wurden, enthielten eine Lebensfuͤlle, an welche das, was von Goethe und Rouſſeau in dieſer Art bekannt iſt, nur ſelten hinan¬ reicht; ſo moͤgen die Briefe an Frau von Houdetot ge¬ weſen ſein, deren Rouſſeau ſelbſt als unvergleichbar mit allem andern erwaͤhnt, ein ſolches Feuer der Wirk¬ lichkeit mag auch in ihnen gebrannt haben! Dieſe Papiere, nachdem ſie lange in meiner Verwahrung ge¬ weſen, ſind leider im Jahre 1813 verloren und wahr¬ ſcheinlich vernichtet worden, bis auf wenige, die kein genuͤgendes Bild geben. Es ſcheint, als ſolle derglei¬ chen nicht zum litterariſchen Denkmal werden, ſondern heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar gehoͤrte. Naͤchte lang ſaß ich uͤber dieſen Blaͤttern, ich lernte kennen, wovon ich fruͤher keinen Begriff gehabt, oder vielmehr, was in meiner Ahnung geſchlummert, wurde mir zur wachen Anſchauung. Nur das duͤnkte mich ein Traum, daß ich zu dieſen Schriften gekom¬ men war, und an ſolchem Daſein ſo nahen Antheil gewann.
Die Fuͤlle und Kraft perſoͤnlicher Lebensentwicklung waren mit der Schoͤnheit und Erhebung dichteriſchen und philoſophiſchen Geiſtlebens in engem Buͤndniſſe, ſie
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hier uͤberſchwaͤnglich die edelſte Nahrung gefunden und
aufgezehrt; andres Leid und andrer Untergang erſchien
dagegen gering und kaum noch mitleidswerth. Die
Briefe und Tageblaͤtter, welche mir aus einziger Gunſt
des Vertrauens zum Leſen gegeben wurden, enthielten
eine Lebensfuͤlle, an welche das, was von Goethe und
Rouſſeau in dieſer Art bekannt iſt, nur ſelten hinan¬
reicht; ſo moͤgen die Briefe an Frau von Houdetot ge¬
weſen ſein, deren Rouſſeau ſelbſt als unvergleichbar
mit allem andern erwaͤhnt, ein ſolches Feuer der Wirk¬
lichkeit mag auch in ihnen gebrannt haben! Dieſe
Papiere, nachdem ſie lange in meiner Verwahrung ge¬
weſen, ſind leider im Jahre 1813 verloren und wahr¬
ſcheinlich vernichtet worden, bis auf wenige, die kein
genuͤgendes Bild geben. Es ſcheint, als ſolle derglei¬
chen nicht zum litterariſchen Denkmal werden, ſondern
heimgehen mit den Perſonen, denen es unmittelbar
gehoͤrte. Naͤchte lang ſaß ich uͤber dieſen Blaͤttern, ich
lernte kennen, wovon ich fruͤher keinen Begriff gehabt,
oder vielmehr, was in meiner Ahnung geſchlummert,
wurde mir zur wachen Anſchauung. Nur das duͤnkte
mich ein Traum, daß ich zu dieſen Schriften gekom¬
men war, und an ſolchem Daſein ſo nahen Antheil
gewann.
Die Fuͤlle und Kraft perſoͤnlicher Lebensentwicklung
waren mit der Schoͤnheit und Erhebung dichteriſchen
und philoſophiſchen Geiſtlebens in engem Buͤndniſſe, ſie
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 2. Mannheim, 1837, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten02_1837/182>, abgerufen am 24.11.2024.
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