Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

diesen Gebieten, wo ein ungeheurer Vorrath durchar¬
beiteter Kenntnisse nöthig ist, können Scharfsinn und
Divination ohne jene Grundlage wenig leisten. Schultz
war auf diesem Boden ein dilettantischer Autodidakt,
und sein Eigendünkel ging bis zur Verwegenheit. Ohne
eigentliche Geschichts- und Antiquitäten-Kenntniß, ohne
Griechisch und mehr als oberflächlich Lateinisch zu wis¬
sen, meinte er die vorgefundenen Ansichten umstoßen,
und ein ganz neues Licht anzünden zu können. In den
Briefen an Goethe legt er seine ersten Versuche dieser
Art nieder. Er verwirft ohne weiteres die Authentie
des Pomponius Mela, der ihm nicht in seine Vorstel¬
lungen paßt, und eben so die Authentie des Vitruvius.
Er täuscht sich selber, und meint, indem er seinen Ei¬
gensinn und seine Willkür in Einzelheiten weiterausbil¬
det, dadurch gründlich zu sein. So weiß er bald ganz
genau, daß der Pomponius Mela ein muthwilliges
Jugendwerk des Boccaccio ist, der dabei wahrscheinlich
eine im neunten oder zehnten Jahrhundert auf Monte
Cassino kompilirte Skizze zum Grunde gelegt; so weiß
er nicht minder, daß Vitruvius im zehnten Jahrhundert,
wahrscheinlich von Pabst Sylvester II., als Abt Gerbert
zu Bobbio, aus griechischen und römischen Nachrichten
kompilirt worden, mit vielen andern genauen Vermu¬
thungen, die sich ihm sogleich als Gewißheit feststellen.
Ihm ist es ganz recht und lieb, mit der großen gelehr¬
ten Welt hier in offnen Widerspruch und Krieg zu

dieſen Gebieten, wo ein ungeheurer Vorrath durchar¬
beiteter Kenntniſſe noͤthig iſt, koͤnnen Scharfſinn und
Divination ohne jene Grundlage wenig leiſten. Schultz
war auf dieſem Boden ein dilettantiſcher Autodidakt,
und ſein Eigenduͤnkel ging bis zur Verwegenheit. Ohne
eigentliche Geſchichts- und Antiquitaͤten-Kenntniß, ohne
Griechiſch und mehr als oberflaͤchlich Lateiniſch zu wiſ¬
ſen, meinte er die vorgefundenen Anſichten umſtoßen,
und ein ganz neues Licht anzuͤnden zu koͤnnen. In den
Briefen an Goethe legt er ſeine erſten Verſuche dieſer
Art nieder. Er verwirft ohne weiteres die Authentie
des Pomponius Mela, der ihm nicht in ſeine Vorſtel¬
lungen paßt, und eben ſo die Authentie des Vitruvius.
Er taͤuſcht ſich ſelber, und meint, indem er ſeinen Ei¬
genſinn und ſeine Willkuͤr in Einzelheiten weiterausbil¬
det, dadurch gruͤndlich zu ſein. So weiß er bald ganz
genau, daß der Pomponius Mela ein muthwilliges
Jugendwerk des Boccaccio iſt, der dabei wahrſcheinlich
eine im neunten oder zehnten Jahrhundert auf Monte
Caſſino kompilirte Skizze zum Grunde gelegt; ſo weiß
er nicht minder, daß Vitruvius im zehnten Jahrhundert,
wahrſcheinlich von Pabſt Sylveſter II., als Abt Gerbert
zu Bobbio, aus griechiſchen und roͤmiſchen Nachrichten
kompilirt worden, mit vielen andern genauen Vermu¬
thungen, die ſich ihm ſogleich als Gewißheit feſtſtellen.
Ihm iſt es ganz recht und lieb, mit der großen gelehr¬
ten Welt hier in offnen Widerſpruch und Krieg zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0482" n="468"/>
die&#x017F;en Gebieten, wo ein ungeheurer Vorrath durchar¬<lb/>
beiteter Kenntni&#x017F;&#x017F;e no&#x0364;thig i&#x017F;t, ko&#x0364;nnen Scharf&#x017F;inn und<lb/>
Divination ohne jene Grundlage wenig lei&#x017F;ten. Schultz<lb/>
war auf die&#x017F;em Boden ein dilettanti&#x017F;cher Autodidakt,<lb/>
und &#x017F;ein Eigendu&#x0364;nkel ging bis zur Verwegenheit. Ohne<lb/>
eigentliche Ge&#x017F;chichts- und Antiquita&#x0364;ten-Kenntniß, ohne<lb/>
Griechi&#x017F;ch und mehr als oberfla&#x0364;chlich Lateini&#x017F;ch zu wi&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en, meinte er die vorgefundenen An&#x017F;ichten um&#x017F;toßen,<lb/>
und ein ganz neues Licht anzu&#x0364;nden zu ko&#x0364;nnen. In den<lb/>
Briefen an Goethe legt er &#x017F;eine er&#x017F;ten Ver&#x017F;uche die&#x017F;er<lb/>
Art nieder. Er verwirft ohne weiteres die Authentie<lb/>
des Pomponius Mela, der ihm nicht in &#x017F;eine Vor&#x017F;tel¬<lb/>
lungen paßt, und eben &#x017F;o die Authentie des Vitruvius.<lb/>
Er ta&#x0364;u&#x017F;cht &#x017F;ich &#x017F;elber, und meint, indem er &#x017F;einen Ei¬<lb/>
gen&#x017F;inn und &#x017F;eine Willku&#x0364;r in Einzelheiten weiterausbil¬<lb/>
det, dadurch gru&#x0364;ndlich zu &#x017F;ein. So weiß er bald ganz<lb/>
genau, daß der Pomponius Mela ein muthwilliges<lb/>
Jugendwerk des Boccaccio i&#x017F;t, der dabei wahr&#x017F;cheinlich<lb/>
eine im neunten oder zehnten Jahrhundert auf Monte<lb/>
Ca&#x017F;&#x017F;ino kompilirte Skizze zum Grunde gelegt; &#x017F;o weiß<lb/>
er nicht minder, daß Vitruvius im zehnten Jahrhundert,<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich von Pab&#x017F;t Sylve&#x017F;ter <hi rendition="#aq">II</hi><hi rendition="#b">.</hi>, als Abt Gerbert<lb/>
zu Bobbio, aus griechi&#x017F;chen und ro&#x0364;mi&#x017F;chen Nachrichten<lb/>
kompilirt worden, mit vielen andern genauen Vermu¬<lb/>
thungen, die &#x017F;ich ihm &#x017F;ogleich als Gewißheit fe&#x017F;t&#x017F;tellen.<lb/>
Ihm i&#x017F;t es ganz recht und lieb, mit der großen gelehr¬<lb/>
ten Welt hier in offnen Wider&#x017F;pruch und Krieg zu<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[468/0482] dieſen Gebieten, wo ein ungeheurer Vorrath durchar¬ beiteter Kenntniſſe noͤthig iſt, koͤnnen Scharfſinn und Divination ohne jene Grundlage wenig leiſten. Schultz war auf dieſem Boden ein dilettantiſcher Autodidakt, und ſein Eigenduͤnkel ging bis zur Verwegenheit. Ohne eigentliche Geſchichts- und Antiquitaͤten-Kenntniß, ohne Griechiſch und mehr als oberflaͤchlich Lateiniſch zu wiſ¬ ſen, meinte er die vorgefundenen Anſichten umſtoßen, und ein ganz neues Licht anzuͤnden zu koͤnnen. In den Briefen an Goethe legt er ſeine erſten Verſuche dieſer Art nieder. Er verwirft ohne weiteres die Authentie des Pomponius Mela, der ihm nicht in ſeine Vorſtel¬ lungen paßt, und eben ſo die Authentie des Vitruvius. Er taͤuſcht ſich ſelber, und meint, indem er ſeinen Ei¬ genſinn und ſeine Willkuͤr in Einzelheiten weiterausbil¬ det, dadurch gruͤndlich zu ſein. So weiß er bald ganz genau, daß der Pomponius Mela ein muthwilliges Jugendwerk des Boccaccio iſt, der dabei wahrſcheinlich eine im neunten oder zehnten Jahrhundert auf Monte Caſſino kompilirte Skizze zum Grunde gelegt; ſo weiß er nicht minder, daß Vitruvius im zehnten Jahrhundert, wahrſcheinlich von Pabſt Sylveſter II., als Abt Gerbert zu Bobbio, aus griechiſchen und roͤmiſchen Nachrichten kompilirt worden, mit vielen andern genauen Vermu¬ thungen, die ſich ihm ſogleich als Gewißheit feſtſtellen. Ihm iſt es ganz recht und lieb, mit der großen gelehr¬ ten Welt hier in offnen Widerſpruch und Krieg zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/482
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/482>, abgerufen am 05.06.2024.