Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite
"Im Sinne der Wanderer."

Als vor beinahe dreißig Jahren, im Gedränge so
vieler Urtheile, Betrachtungen, Studien und Deutun¬
gen, zu welchen Wilhelm Meisters Lehrjahre damals
in der deutschen gebildeten Welt den unerschöpflichen
Stoff boten, auch zuerst der Spruch verlautete: Das
ganze Buch sei gleichsam eine Frucht, reich und schön
um den Kern herumgewachsen, der in ihm durch Text¬
stellen gebildet werde, von denen die eine bedeutungs¬
voll ausdrückt, wie die Erde in der alten Welt überall
schon in Besitz genommen sei, und die andre schmerzlich
beklagt, daß dem Menschen nicht allein so manches
Unmögliche, sondern auch so manches Mögliche versagt
worden; -- als dieser Spruch zuerst vernommen wurde,
konnte er fast nur befremden: denn der leichte Sinn
der meisten Leser wird im Genusse des Einzelnen durch
jede Hindeutung auf ein inneres Ganze fast immer un¬
angenehm gestört, und selbst der tiefere scheut gar oft
vor dem Gedanken zurück, der ihm als ungewohnte

„Im Sinne der Wanderer.”

Als vor beinahe dreißig Jahren, im Gedraͤnge ſo
vieler Urtheile, Betrachtungen, Studien und Deutun¬
gen, zu welchen Wilhelm Meiſters Lehrjahre damals
in der deutſchen gebildeten Welt den unerſchoͤpflichen
Stoff boten, auch zuerſt der Spruch verlautete: Das
ganze Buch ſei gleichſam eine Frucht, reich und ſchoͤn
um den Kern herumgewachſen, der in ihm durch Text¬
ſtellen gebildet werde, von denen die eine bedeutungs¬
voll ausdruͤckt, wie die Erde in der alten Welt uͤberall
ſchon in Beſitz genommen ſei, und die andre ſchmerzlich
beklagt, daß dem Menſchen nicht allein ſo manches
Unmoͤgliche, ſondern auch ſo manches Moͤgliche verſagt
worden; — als dieſer Spruch zuerſt vernommen wurde,
konnte er faſt nur befremden: denn der leichte Sinn
der meiſten Leſer wird im Genuſſe des Einzelnen durch
jede Hindeutung auf ein inneres Ganze faſt immer un¬
angenehm geſtoͤrt, und ſelbſt der tiefere ſcheut gar oft
vor dem Gedanken zuruͤck, der ihm als ungewohnte

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0427" n="[413]"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">&#x201E;Im Sinne der Wanderer.&#x201D;</hi><lb/>
          </head>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p><hi rendition="#in">A</hi>ls vor beinahe dreißig Jahren, im Gedra&#x0364;nge &#x017F;o<lb/>
vieler Urtheile, Betrachtungen, Studien und Deutun¬<lb/>
gen, zu welchen Wilhelm Mei&#x017F;ters Lehrjahre damals<lb/>
in der deut&#x017F;chen gebildeten Welt den uner&#x017F;cho&#x0364;pflichen<lb/>
Stoff boten, auch zuer&#x017F;t der Spruch verlautete: Das<lb/>
ganze Buch &#x017F;ei gleich&#x017F;am eine Frucht, reich und &#x017F;cho&#x0364;n<lb/>
um den Kern herumgewach&#x017F;en, der in ihm durch Text¬<lb/>
&#x017F;tellen gebildet werde, von denen die eine bedeutungs¬<lb/>
voll ausdru&#x0364;ckt, wie die Erde in der alten Welt u&#x0364;berall<lb/>
&#x017F;chon in Be&#x017F;itz genommen &#x017F;ei, und die andre &#x017F;chmerzlich<lb/>
beklagt, daß dem Men&#x017F;chen nicht allein &#x017F;o manches<lb/>
Unmo&#x0364;gliche, &#x017F;ondern auch &#x017F;o manches Mo&#x0364;gliche ver&#x017F;agt<lb/>
worden; &#x2014; als die&#x017F;er Spruch zuer&#x017F;t vernommen wurde,<lb/>
konnte er fa&#x017F;t nur befremden: denn der leichte Sinn<lb/>
der mei&#x017F;ten Le&#x017F;er wird im Genu&#x017F;&#x017F;e des Einzelnen durch<lb/>
jede Hindeutung auf ein inneres Ganze fa&#x017F;t immer un¬<lb/>
angenehm ge&#x017F;to&#x0364;rt, und &#x017F;elb&#x017F;t der tiefere &#x017F;cheut gar oft<lb/>
vor dem Gedanken zuru&#x0364;ck, der ihm als ungewohnte<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[[413]/0427] „Im Sinne der Wanderer.” Als vor beinahe dreißig Jahren, im Gedraͤnge ſo vieler Urtheile, Betrachtungen, Studien und Deutun¬ gen, zu welchen Wilhelm Meiſters Lehrjahre damals in der deutſchen gebildeten Welt den unerſchoͤpflichen Stoff boten, auch zuerſt der Spruch verlautete: Das ganze Buch ſei gleichſam eine Frucht, reich und ſchoͤn um den Kern herumgewachſen, der in ihm durch Text¬ ſtellen gebildet werde, von denen die eine bedeutungs¬ voll ausdruͤckt, wie die Erde in der alten Welt uͤberall ſchon in Beſitz genommen ſei, und die andre ſchmerzlich beklagt, daß dem Menſchen nicht allein ſo manches Unmoͤgliche, ſondern auch ſo manches Moͤgliche verſagt worden; — als dieſer Spruch zuerſt vernommen wurde, konnte er faſt nur befremden: denn der leichte Sinn der meiſten Leſer wird im Genuſſe des Einzelnen durch jede Hindeutung auf ein inneres Ganze faſt immer un¬ angenehm geſtoͤrt, und ſelbſt der tiefere ſcheut gar oft vor dem Gedanken zuruͤck, der ihm als ungewohnte

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/427
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. [413]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/427>, abgerufen am 25.11.2024.