gen, ohne daß etwas dabei vermißt würde, sobald nur die Einbildungskraft sich nicht geradezu abgewiesen findet. Wir können in solchem Falle nur das arme Mädchen bedauern, welches, anstatt wirklicher Gegen¬ stand persönlicher Liebe zu sein, nur gleichsam einer metaphysischen Erhitzung zum Gegenbilde, zum Nicht- Ich, dienen muß; es kann dabei in keiner Art ein wahres Glück herauskommen, wenn auch ein völliges Unglück wohl vermieden bleibt. Erhard selbst begrün¬ det in seinen Briefen einen Unterschied von Lieben und Verliebtsein; was er unter dem einen und dem andern zu verstehen scheint, würde erst verbunden das Gefühl bilden, das er auf die eine Seite allein festsetzen will; die Trennung führt aber auf beiden Seiten zum Un¬ genügenden. Er muß dieses wohl gewahr werden; da er die Geliebte nicht liebt, wie sie ist, sondern wie sie sein soll, oder wenigstens werden soll mit ihm und durch ihn, so schwindet alle sichre Gegenwart in un¬ gewisse Zukunft. Die Versuche, Prüfungen, Bildungs¬ arbeiten, welche eine Zeitlang der Empfindung förder¬ lich gewesen, überdrängen diese, wie sehr auch guter Wille und freundliches Eingehn die Schärfe mildern. Noch andre Stoffe werden herbeigezogen, der Spiel¬ raum wird erweitert, die Freunde sollen mitwissen und mitleben in dem Liebesbunde, aber jemehr hinzukommt, desto bedenklicher wird der Zustand, es entstehen Ein¬ mischungen, Gerede, Benachrichtigungen, Rathschläge,
gen, ohne daß etwas dabei vermißt wuͤrde, ſobald nur die Einbildungskraft ſich nicht geradezu abgewieſen findet. Wir koͤnnen in ſolchem Falle nur das arme Maͤdchen bedauern, welches, anſtatt wirklicher Gegen¬ ſtand perſoͤnlicher Liebe zu ſein, nur gleichſam einer metaphyſiſchen Erhitzung zum Gegenbilde, zum Nicht- Ich, dienen muß; es kann dabei in keiner Art ein wahres Gluͤck herauskommen, wenn auch ein voͤlliges Ungluͤck wohl vermieden bleibt. Erhard ſelbſt begruͤn¬ det in ſeinen Briefen einen Unterſchied von Lieben und Verliebtſein; was er unter dem einen und dem andern zu verſtehen ſcheint, wuͤrde erſt verbunden das Gefuͤhl bilden, das er auf die eine Seite allein feſtſetzen will; die Trennung fuͤhrt aber auf beiden Seiten zum Un¬ genuͤgenden. Er muß dieſes wohl gewahr werden; da er die Geliebte nicht liebt, wie ſie iſt, ſondern wie ſie ſein ſoll, oder wenigſtens werden ſoll mit ihm und durch ihn, ſo ſchwindet alle ſichre Gegenwart in un¬ gewiſſe Zukunft. Die Verſuche, Pruͤfungen, Bildungs¬ arbeiten, welche eine Zeitlang der Empfindung foͤrder¬ lich geweſen, uͤberdraͤngen dieſe, wie ſehr auch guter Wille und freundliches Eingehn die Schaͤrfe mildern. Noch andre Stoffe werden herbeigezogen, der Spiel¬ raum wird erweitert, die Freunde ſollen mitwiſſen und mitleben in dem Liebesbunde, aber jemehr hinzukommt, deſto bedenklicher wird der Zuſtand, es entſtehen Ein¬ miſchungen, Gerede, Benachrichtigungen, Rathſchlaͤge,
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gen, ohne daß etwas dabei vermißt wuͤrde, ſobald nur
die Einbildungskraft ſich nicht geradezu abgewieſen
findet. Wir koͤnnen in ſolchem Falle nur das arme
Maͤdchen bedauern, welches, anſtatt wirklicher Gegen¬
ſtand perſoͤnlicher Liebe zu ſein, nur gleichſam einer
metaphyſiſchen Erhitzung zum Gegenbilde, zum Nicht-
Ich, dienen muß; es kann dabei in keiner Art ein
wahres Gluͤck herauskommen, wenn auch ein voͤlliges
Ungluͤck wohl vermieden bleibt. Erhard ſelbſt begruͤn¬
det in ſeinen Briefen einen Unterſchied von Lieben und
Verliebtſein; was er unter dem einen und dem andern
zu verſtehen ſcheint, wuͤrde erſt verbunden das Gefuͤhl
bilden, das er auf die eine Seite allein feſtſetzen will;
die Trennung fuͤhrt aber auf beiden Seiten zum Un¬
genuͤgenden. Er muß dieſes wohl gewahr werden; da
er die Geliebte nicht liebt, wie ſie iſt, ſondern wie ſie
ſein ſoll, oder wenigſtens werden ſoll mit ihm und
durch ihn, ſo ſchwindet alle ſichre Gegenwart in un¬
gewiſſe Zukunft. Die Verſuche, Pruͤfungen, Bildungs¬
arbeiten, welche eine Zeitlang der Empfindung foͤrder¬
lich geweſen, uͤberdraͤngen dieſe, wie ſehr auch guter
Wille und freundliches Eingehn die Schaͤrfe mildern.
Noch andre Stoffe werden herbeigezogen, der Spiel¬
raum wird erweitert, die Freunde ſollen mitwiſſen und
mitleben in dem Liebesbunde, aber jemehr hinzukommt,
deſto bedenklicher wird der Zuſtand, es entſtehen Ein¬
miſchungen, Gerede, Benachrichtigungen, Rathſchlaͤge,
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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/302>, abgerufen am 22.11.2024.
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