Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

in ihr das Vollkommenste, er erwartet von ihr jede
geistige Erhebung und sittliche Förderung, er schwelgt
in Bewunderung und leidenschaftlicher Zuneigung. Sein
Geist macht inzwischen große Fortschritte, seine Denk¬
art entscheidet sich zu fester Bestimmtheit, er ist zwar
für die Welt noch nicht, aber für sich zum Manne ge¬
worden, und auch diese Gewinnste sämmtlich haben die
innigste Verknüpfung mit seiner Liebe, die an ihnen
gebend und empfangend Theil hat. Und dennoch, bei
allem Feuer, bei aller Begeisterung, bei aller Zärtlich¬
keit, welche hier ausgedrückt wird, fehlt im Grunde,
wir müssen es sagen, doch eigentliche Liebe ganz! In
Wahrheit, dies ist, wenn auch oft ihr Wort, nicht ihre,
Art und Richtung. Das Leidenschaftliche, die Span¬
nung, das Bedürfniß, die Vertraulichkeit, dies alles
entbehrt, wie wir wenigstens hier es sehen, des einen
Vorzuges, der einzig den Karakter wahrer Liebe aus¬
macht, -- der Nothwendigkeit dieser bestimmten Per¬
sönlichkeit! Das unbedingt Individuelle des Menschen,
als tiefster Grund der unerklärbaren Zuneigung, er¬
scheint hier nicht als Gegenstand; Eigenschaften sind es
vielmehr, die mit Bewußtsein gefaßt, geschätzt sind,
vielleicht vorausgesetzt. Könnte dem äußeren Sinne
die Täuschung bereitet, dem Bewußtsein die Versetzung
entzogen werden, so ließe solche blos auf Eigenschaften
gerichtete allgemeine Leidenschaft mit all ihrem Zubehör
sich auf die verschiedensten Personen leichtlich übertra¬

in ihr das Vollkommenſte, er erwartet von ihr jede
geiſtige Erhebung und ſittliche Foͤrderung, er ſchwelgt
in Bewunderung und leidenſchaftlicher Zuneigung. Sein
Geiſt macht inzwiſchen große Fortſchritte, ſeine Denk¬
art entſcheidet ſich zu feſter Beſtimmtheit, er iſt zwar
fuͤr die Welt noch nicht, aber fuͤr ſich zum Manne ge¬
worden, und auch dieſe Gewinnſte ſaͤmmtlich haben die
innigſte Verknuͤpfung mit ſeiner Liebe, die an ihnen
gebend und empfangend Theil hat. Und dennoch, bei
allem Feuer, bei aller Begeiſterung, bei aller Zaͤrtlich¬
keit, welche hier ausgedruͤckt wird, fehlt im Grunde,
wir muͤſſen es ſagen, doch eigentliche Liebe ganz! In
Wahrheit, dies iſt, wenn auch oft ihr Wort, nicht ihre,
Art und Richtung. Das Leidenſchaftliche, die Span¬
nung, das Beduͤrfniß, die Vertraulichkeit, dies alles
entbehrt, wie wir wenigſtens hier es ſehen, des einen
Vorzuges, der einzig den Karakter wahrer Liebe aus¬
macht, — der Nothwendigkeit dieſer beſtimmten Per¬
ſoͤnlichkeit! Das unbedingt Individuelle des Menſchen,
als tiefſter Grund der unerklaͤrbaren Zuneigung, er¬
ſcheint hier nicht als Gegenſtand; Eigenſchaften ſind es
vielmehr, die mit Bewußtſein gefaßt, geſchaͤtzt ſind,
vielleicht vorausgeſetzt. Koͤnnte dem aͤußeren Sinne
die Taͤuſchung bereitet, dem Bewußtſein die Verſetzung
entzogen werden, ſo ließe ſolche blos auf Eigenſchaften
gerichtete allgemeine Leidenſchaft mit all ihrem Zubehoͤr
ſich auf die verſchiedenſten Perſonen leichtlich uͤbertra¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0301" n="287"/>
in ihr das Vollkommen&#x017F;te, er erwartet von ihr jede<lb/>
gei&#x017F;tige Erhebung und &#x017F;ittliche Fo&#x0364;rderung, er &#x017F;chwelgt<lb/>
in Bewunderung und leiden&#x017F;chaftlicher Zuneigung. Sein<lb/>
Gei&#x017F;t macht inzwi&#x017F;chen große Fort&#x017F;chritte, &#x017F;eine Denk¬<lb/>
art ent&#x017F;cheidet &#x017F;ich zu fe&#x017F;ter Be&#x017F;timmtheit, er i&#x017F;t zwar<lb/>
fu&#x0364;r die Welt noch nicht, aber fu&#x0364;r &#x017F;ich zum Manne ge¬<lb/>
worden, und auch die&#x017F;e Gewinn&#x017F;te &#x017F;a&#x0364;mmtlich haben die<lb/>
innig&#x017F;te Verknu&#x0364;pfung mit &#x017F;einer Liebe, die an ihnen<lb/>
gebend und empfangend Theil hat. Und dennoch, bei<lb/>
allem Feuer, bei aller Begei&#x017F;terung, bei aller Za&#x0364;rtlich¬<lb/>
keit, welche hier ausgedru&#x0364;ckt wird, fehlt im Grunde,<lb/>
wir mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en es &#x017F;agen, doch eigentliche Liebe ganz! In<lb/>
Wahrheit, dies i&#x017F;t, wenn auch oft ihr Wort, nicht ihre,<lb/>
Art und Richtung. Das Leiden&#x017F;chaftliche, die Span¬<lb/>
nung, das Bedu&#x0364;rfniß, die Vertraulichkeit, dies alles<lb/>
entbehrt, wie wir wenig&#x017F;tens hier es &#x017F;ehen, des einen<lb/>
Vorzuges, der einzig den Karakter wahrer Liebe aus¬<lb/>
macht, &#x2014; der Nothwendigkeit die&#x017F;er be&#x017F;timmten Per¬<lb/>
&#x017F;o&#x0364;nlichkeit! Das unbedingt Individuelle des Men&#x017F;chen,<lb/>
als tief&#x017F;ter Grund der unerkla&#x0364;rbaren Zuneigung, er¬<lb/>
&#x017F;cheint hier nicht als Gegen&#x017F;tand; Eigen&#x017F;chaften &#x017F;ind es<lb/>
vielmehr, die mit Bewußt&#x017F;ein gefaßt, ge&#x017F;cha&#x0364;tzt &#x017F;ind,<lb/>
vielleicht vorausge&#x017F;etzt. Ko&#x0364;nnte dem a&#x0364;ußeren Sinne<lb/>
die Ta&#x0364;u&#x017F;chung bereitet, dem Bewußt&#x017F;ein die Ver&#x017F;etzung<lb/>
entzogen werden, &#x017F;o ließe &#x017F;olche blos auf Eigen&#x017F;chaften<lb/>
gerichtete allgemeine Leiden&#x017F;chaft mit all ihrem Zubeho&#x0364;r<lb/>
&#x017F;ich auf die ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Per&#x017F;onen leichtlich u&#x0364;bertra¬<lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[287/0301] in ihr das Vollkommenſte, er erwartet von ihr jede geiſtige Erhebung und ſittliche Foͤrderung, er ſchwelgt in Bewunderung und leidenſchaftlicher Zuneigung. Sein Geiſt macht inzwiſchen große Fortſchritte, ſeine Denk¬ art entſcheidet ſich zu feſter Beſtimmtheit, er iſt zwar fuͤr die Welt noch nicht, aber fuͤr ſich zum Manne ge¬ worden, und auch dieſe Gewinnſte ſaͤmmtlich haben die innigſte Verknuͤpfung mit ſeiner Liebe, die an ihnen gebend und empfangend Theil hat. Und dennoch, bei allem Feuer, bei aller Begeiſterung, bei aller Zaͤrtlich¬ keit, welche hier ausgedruͤckt wird, fehlt im Grunde, wir muͤſſen es ſagen, doch eigentliche Liebe ganz! In Wahrheit, dies iſt, wenn auch oft ihr Wort, nicht ihre, Art und Richtung. Das Leidenſchaftliche, die Span¬ nung, das Beduͤrfniß, die Vertraulichkeit, dies alles entbehrt, wie wir wenigſtens hier es ſehen, des einen Vorzuges, der einzig den Karakter wahrer Liebe aus¬ macht, — der Nothwendigkeit dieſer beſtimmten Per¬ ſoͤnlichkeit! Das unbedingt Individuelle des Menſchen, als tiefſter Grund der unerklaͤrbaren Zuneigung, er¬ ſcheint hier nicht als Gegenſtand; Eigenſchaften ſind es vielmehr, die mit Bewußtſein gefaßt, geſchaͤtzt ſind, vielleicht vorausgeſetzt. Koͤnnte dem aͤußeren Sinne die Taͤuſchung bereitet, dem Bewußtſein die Verſetzung entzogen werden, ſo ließe ſolche blos auf Eigenſchaften gerichtete allgemeine Leidenſchaft mit all ihrem Zubehoͤr ſich auf die verſchiedenſten Perſonen leichtlich uͤbertra¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/301
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/301>, abgerufen am 18.12.2024.