Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

Bild:
<< vorherige Seite

folgen in der Geschichte lernt. Ich wollte durchaus
die mathematischen Sätze aus den Begriffen mir erklä¬
ren, und hatte mich bis zur Ohnmacht mit dem Ver¬
suche gequält, aus den Begriffen der geraden Linie,
des Raumes und des Einschließens, schlußgerecht zu
beweisen, daß zwei gerade Linien keinen Raum ein¬
schließen können. Diese logische Bemühung, die Ma¬
thematik zu begreifen, hatte mir vorzüglich Wolf mit¬
getheilt, denn ich sahe damals noch nicht ein, daß die¬
ser so verdiente und noch nicht nach Verdienst geschätzte
Mann die Täuschung hatte, als hätte er die mathema¬
tische Methode in die Philosophie eingeführt, da er
vielmehr sich eben so vergebens bestrebt hatte, die dog¬
matisch philosophische in die Mathematik zu übertragen.
Endlich ging mir bei dem Lehrsatz, daß Parallelogram¬
me von gleicher Basis zwischen zwei Parallelen einander
gleich sind, auf Einmal Licht auf, und mit einem mir
noch unvergeßlichen Gefühle fühlte ich mich nun durch
Anschauung überzeugt, und hatte das Bewußtsein des
Unterschiedes zwischen mathematischer Evidenz und logi¬
schem Ueberweisen. Ich empfand nun, daß Mathematik
immer überzeugt, sobald ihre Beweise gefaßt werden,
und Logik öfter zum Rechtgeben zwingt, ohne daß man
sich überzeugt fühlt. So sehr ich diesen Unterschied
empfand, so konnte ich mir doch noch nicht Rechenschaft
davon geben; dies lernte ich erst aus Kant. Eine
ähnliche Bewandtniß, wie mit der Entwickelung des

folgen in der Geſchichte lernt. Ich wollte durchaus
die mathematiſchen Saͤtze aus den Begriffen mir erklaͤ¬
ren, und hatte mich bis zur Ohnmacht mit dem Ver¬
ſuche gequaͤlt, aus den Begriffen der geraden Linie,
des Raumes und des Einſchließens, ſchlußgerecht zu
beweiſen, daß zwei gerade Linien keinen Raum ein¬
ſchließen koͤnnen. Dieſe logiſche Bemuͤhung, die Ma¬
thematik zu begreifen, hatte mir vorzuͤglich Wolf mit¬
getheilt, denn ich ſahe damals noch nicht ein, daß die¬
ſer ſo verdiente und noch nicht nach Verdienſt geſchaͤtzte
Mann die Taͤuſchung hatte, als haͤtte er die mathema¬
tiſche Methode in die Philoſophie eingefuͤhrt, da er
vielmehr ſich eben ſo vergebens beſtrebt hatte, die dog¬
matiſch philoſophiſche in die Mathematik zu uͤbertragen.
Endlich ging mir bei dem Lehrſatz, daß Parallelogram¬
me von gleicher Baſis zwiſchen zwei Parallelen einander
gleich ſind, auf Einmal Licht auf, und mit einem mir
noch unvergeßlichen Gefuͤhle fuͤhlte ich mich nun durch
Anſchauung uͤberzeugt, und hatte das Bewußtſein des
Unterſchiedes zwiſchen mathematiſcher Evidenz und logi¬
ſchem Ueberweiſen. Ich empfand nun, daß Mathematik
immer uͤberzeugt, ſobald ihre Beweiſe gefaßt werden,
und Logik oͤfter zum Rechtgeben zwingt, ohne daß man
ſich uͤberzeugt fuͤhlt. So ſehr ich dieſen Unterſchied
empfand, ſo konnte ich mir doch noch nicht Rechenſchaft
davon geben; dies lernte ich erſt aus Kant. Eine
aͤhnliche Bewandtniß, wie mit der Entwickelung des

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0249" n="235"/>
folgen in der Ge&#x017F;chichte lernt. Ich wollte durchaus<lb/>
die mathemati&#x017F;chen Sa&#x0364;tze aus den Begriffen mir erkla&#x0364;¬<lb/>
ren, und hatte mich bis zur Ohnmacht mit dem Ver¬<lb/>
&#x017F;uche gequa&#x0364;lt, aus den Begriffen der geraden Linie,<lb/>
des Raumes und des Ein&#x017F;chließens, &#x017F;chlußgerecht zu<lb/>
bewei&#x017F;en, daß zwei gerade Linien keinen Raum ein¬<lb/>
&#x017F;chließen ko&#x0364;nnen. Die&#x017F;e logi&#x017F;che Bemu&#x0364;hung, die Ma¬<lb/>
thematik zu begreifen, hatte mir vorzu&#x0364;glich Wolf mit¬<lb/>
getheilt, denn ich &#x017F;ahe damals noch nicht ein, daß die¬<lb/>
&#x017F;er &#x017F;o verdiente und noch nicht nach Verdien&#x017F;t ge&#x017F;cha&#x0364;tzte<lb/>
Mann die Ta&#x0364;u&#x017F;chung hatte, als ha&#x0364;tte er die mathema¬<lb/>
ti&#x017F;che Methode in die Philo&#x017F;ophie eingefu&#x0364;hrt, da er<lb/>
vielmehr &#x017F;ich eben &#x017F;o vergebens be&#x017F;trebt hatte, die dog¬<lb/>
mati&#x017F;ch philo&#x017F;ophi&#x017F;che in die Mathematik zu u&#x0364;bertragen.<lb/>
Endlich ging mir bei dem Lehr&#x017F;atz, daß Parallelogram¬<lb/>
me von gleicher Ba&#x017F;is zwi&#x017F;chen zwei Parallelen einander<lb/>
gleich &#x017F;ind, auf Einmal Licht auf, und mit einem mir<lb/>
noch unvergeßlichen Gefu&#x0364;hle fu&#x0364;hlte ich mich nun durch<lb/>
An&#x017F;chauung u&#x0364;berzeugt, und hatte das Bewußt&#x017F;ein des<lb/>
Unter&#x017F;chiedes zwi&#x017F;chen mathemati&#x017F;cher Evidenz und logi¬<lb/>
&#x017F;chem Ueberwei&#x017F;en. Ich empfand nun, daß Mathematik<lb/>
immer u&#x0364;berzeugt, &#x017F;obald ihre Bewei&#x017F;e gefaßt werden,<lb/>
und Logik o&#x0364;fter zum Rechtgeben zwingt, ohne daß man<lb/>
&#x017F;ich u&#x0364;berzeugt fu&#x0364;hlt. So &#x017F;ehr ich die&#x017F;en Unter&#x017F;chied<lb/>
empfand, &#x017F;o konnte ich mir doch noch nicht Rechen&#x017F;chaft<lb/>
davon geben; dies lernte ich er&#x017F;t aus <hi rendition="#g">Kant</hi>. Eine<lb/>
a&#x0364;hnliche Bewandtniß, wie mit der Entwickelung des<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[235/0249] folgen in der Geſchichte lernt. Ich wollte durchaus die mathematiſchen Saͤtze aus den Begriffen mir erklaͤ¬ ren, und hatte mich bis zur Ohnmacht mit dem Ver¬ ſuche gequaͤlt, aus den Begriffen der geraden Linie, des Raumes und des Einſchließens, ſchlußgerecht zu beweiſen, daß zwei gerade Linien keinen Raum ein¬ ſchließen koͤnnen. Dieſe logiſche Bemuͤhung, die Ma¬ thematik zu begreifen, hatte mir vorzuͤglich Wolf mit¬ getheilt, denn ich ſahe damals noch nicht ein, daß die¬ ſer ſo verdiente und noch nicht nach Verdienſt geſchaͤtzte Mann die Taͤuſchung hatte, als haͤtte er die mathema¬ tiſche Methode in die Philoſophie eingefuͤhrt, da er vielmehr ſich eben ſo vergebens beſtrebt hatte, die dog¬ matiſch philoſophiſche in die Mathematik zu uͤbertragen. Endlich ging mir bei dem Lehrſatz, daß Parallelogram¬ me von gleicher Baſis zwiſchen zwei Parallelen einander gleich ſind, auf Einmal Licht auf, und mit einem mir noch unvergeßlichen Gefuͤhle fuͤhlte ich mich nun durch Anſchauung uͤberzeugt, und hatte das Bewußtſein des Unterſchiedes zwiſchen mathematiſcher Evidenz und logi¬ ſchem Ueberweiſen. Ich empfand nun, daß Mathematik immer uͤberzeugt, ſobald ihre Beweiſe gefaßt werden, und Logik oͤfter zum Rechtgeben zwingt, ohne daß man ſich uͤberzeugt fuͤhlt. So ſehr ich dieſen Unterſchied empfand, ſo konnte ich mir doch noch nicht Rechenſchaft davon geben; dies lernte ich erſt aus Kant. Eine aͤhnliche Bewandtniß, wie mit der Entwickelung des

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/249
Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/249>, abgerufen am 24.11.2024.