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Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837.

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der Vernunft übereinstimmender gemacht, ohne daß sich
meine Vernunft nicht über ihn erhoben und ihn zum
Gegenstand einer psychologischen Aufgabe, seine Mög¬
lichkeit zu begreifen, gemacht hätte. Man würde aber
sehr übereilt die Lehre daraus ziehen, daß man nie
Glaubenssachen vor den Richterstuhl der Vernunft zie¬
hen müßte, denn nur, was diese wahr findet, ist es,
und macht unser wahres Leben aus, weil es die Ein¬
heit unsers Bewußtseins bewirkt. Alles andere, was
nicht aus dem von der Vernunft Erkannten entspringt,
ist isolirt, wie Thaten des Nachtwandlers, oder die
geglaubten Gespenstererscheinungen. Der Glaube hängt
von den zufälligen Eindrücken ab, über die wir nicht
denken, und es kann daher wohl Einheit im gedanken¬
los ausgesprochenen Glaubensbekenntniß, aber nie in
dem Glauben selbst geben. Nur die Vernunft bringt
Einheit hervor; wo sie noch nicht entscheiden kann, er¬
laubt sie zu glauben; sie stört daher nie den Glauben,
ohne etwas Besseres, Erkenntniß, dafür zu geben;
aber der Glaube, der herrschen will, stört die Vernunft,
um das Schlechteste in den Menschen, Verzicht auf
Einsicht, bei den Menschen hervorzubringen. Während
dieser Religionsuntersuchungen studirte ich zugleich wie¬
der Mathematik, und es gelang mir in meinem funf¬
zehnten Jahre, die erste mathematische Evidenz zu em¬
pfinden. Ich hatte bis dahin die mathematischen Lehren
eben so gelernt, wie man Sprachregeln und Regenten¬

der Vernunft uͤbereinſtimmender gemacht, ohne daß ſich
meine Vernunft nicht uͤber ihn erhoben und ihn zum
Gegenſtand einer pſychologiſchen Aufgabe, ſeine Moͤg¬
lichkeit zu begreifen, gemacht haͤtte. Man wuͤrde aber
ſehr uͤbereilt die Lehre daraus ziehen, daß man nie
Glaubensſachen vor den Richterſtuhl der Vernunft zie¬
hen muͤßte, denn nur, was dieſe wahr findet, iſt es,
und macht unſer wahres Leben aus, weil es die Ein¬
heit unſers Bewußtſeins bewirkt. Alles andere, was
nicht aus dem von der Vernunft Erkannten entſpringt,
iſt iſolirt, wie Thaten des Nachtwandlers, oder die
geglaubten Geſpenſtererſcheinungen. Der Glaube haͤngt
von den zufaͤlligen Eindruͤcken ab, uͤber die wir nicht
denken, und es kann daher wohl Einheit im gedanken¬
los ausgeſprochenen Glaubensbekenntniß, aber nie in
dem Glauben ſelbſt geben. Nur die Vernunft bringt
Einheit hervor; wo ſie noch nicht entſcheiden kann, er¬
laubt ſie zu glauben; ſie ſtoͤrt daher nie den Glauben,
ohne etwas Beſſeres, Erkenntniß, dafuͤr zu geben;
aber der Glaube, der herrſchen will, ſtoͤrt die Vernunft,
um das Schlechteſte in den Menſchen, Verzicht auf
Einſicht, bei den Menſchen hervorzubringen. Waͤhrend
dieſer Religionsunterſuchungen ſtudirte ich zugleich wie¬
der Mathematik, und es gelang mir in meinem funf¬
zehnten Jahre, die erſte mathematiſche Evidenz zu em¬
pfinden. Ich hatte bis dahin die mathematiſchen Lehren
eben ſo gelernt, wie man Sprachregeln und Regenten¬

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[234/0248] der Vernunft uͤbereinſtimmender gemacht, ohne daß ſich meine Vernunft nicht uͤber ihn erhoben und ihn zum Gegenſtand einer pſychologiſchen Aufgabe, ſeine Moͤg¬ lichkeit zu begreifen, gemacht haͤtte. Man wuͤrde aber ſehr uͤbereilt die Lehre daraus ziehen, daß man nie Glaubensſachen vor den Richterſtuhl der Vernunft zie¬ hen muͤßte, denn nur, was dieſe wahr findet, iſt es, und macht unſer wahres Leben aus, weil es die Ein¬ heit unſers Bewußtſeins bewirkt. Alles andere, was nicht aus dem von der Vernunft Erkannten entſpringt, iſt iſolirt, wie Thaten des Nachtwandlers, oder die geglaubten Geſpenſtererſcheinungen. Der Glaube haͤngt von den zufaͤlligen Eindruͤcken ab, uͤber die wir nicht denken, und es kann daher wohl Einheit im gedanken¬ los ausgeſprochenen Glaubensbekenntniß, aber nie in dem Glauben ſelbſt geben. Nur die Vernunft bringt Einheit hervor; wo ſie noch nicht entſcheiden kann, er¬ laubt ſie zu glauben; ſie ſtoͤrt daher nie den Glauben, ohne etwas Beſſeres, Erkenntniß, dafuͤr zu geben; aber der Glaube, der herrſchen will, ſtoͤrt die Vernunft, um das Schlechteſte in den Menſchen, Verzicht auf Einſicht, bei den Menſchen hervorzubringen. Waͤhrend dieſer Religionsunterſuchungen ſtudirte ich zugleich wie¬ der Mathematik, und es gelang mir in meinem funf¬ zehnten Jahre, die erſte mathematiſche Evidenz zu em¬ pfinden. Ich hatte bis dahin die mathematiſchen Lehren eben ſo gelernt, wie man Sprachregeln und Regenten¬

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Denkwürdigkeiten und vermischte Schriften. Bd. 1. Mannheim, 1837, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/varnhagen_denkwuerdigkeiten01_1837/248>, abgerufen am 05.05.2024.