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Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835.

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Von dem Embryo.
etwas Schiefes und für seinen Begriff zu Enges zu enthalten,
weil er zugleich eine in sich mehr abgeschlossene Individualität
bezeichnet. Allein dieses liegt durchaus nicht in seiner Etymo-
logie, da diese nur bezeichnet, dass etwas von einem anderen,
oder bei einem anderen, oder neben einem anderen isst oder zehrt.
Auf diese Weise ist weder die relative Selbstständigkeit des an-
strebenden Organismus, noch seine innere, nothwendige und rela-
tive Abhängigkeit von dem anderen Organismus ausgeschlossen.
Es ist auf eine eben so einfache, als treffende Weise der unend-
liche, nie ruhende Kampf bezeichnet, der auch nie aufhören kann,
weil er den unendlichen und höchsten Widerspruch in sich ent-
hält, die Tendenz zur absoluten Selbstständigkeit einerseits und
die Nothwendigkeit, mit Anderen immer in Relation zu bleiben
anderseits. So kann es bei diesem unendlichen Wogen nie zu
einem festen Resultate kommen. Es kann nie Sieg ohne Nieder-
lage, Bestehen ohne Vergehen, Leben ohne Tod seyn. Jede Indi-
vidualität ist nur eine relative, jede Selbstständigkeit eine abhän-
gige und es giebt in der ganzen Natur nur Nüancen, nur ein be-
stimmtes Mehr oder Weniger, nie ein bestimmtes Festes und für
sich Bestehendes. Wenn wir daher ein Wesen individuell nen-
nen, so geschieht dieses nur dadurch, dass wir, weil es einen
höheren Grad von Selbstständigkeit hat, die Momente, welche seine
Abhängigkeit, seine Verhältnisse zu seinem Mutter- oder Neben-
organismus bezeichnen, in dem Augenblicke ausser Acht lassen.
Da aber dieses ein rein subjectives Verfahren ist, so hat man
auch auf verschiedene Weise die Selbstständigkeit bestimmt und
aufgefasst, und so kann man die Individualität eines Thieres, eines
an ihm befindlichen Theiles, einer an ihm haftenden Krankheit
mit gleichem Rechte vertheidigen, weil alle diese Verhältnisse nur
reine Abstracta, Unwahrheiten des Reellen sind. In der Natur des
Einzelnen dagegen ist nur ein Streben realisirt, das nie vollendet, ein
Ziel, welches nie erreicht werden kann. -- Wenden wir das Gesagte
auf die von uns oben zuletzt erwähnten Säugethiere an, so ist
das Ei ein Parasit der Mutter, die Frucht ein Parasit des Eies.
Beide haben einen gleichen Charakter, eine gleiche Tendenz, bei-
den kommt eine relative Selbstständigkeit zu. Nur wird die zeit-
liche Dauer, so wie die Intensität der letzteren, durch ihre ver-
schiedenen Kräfte, Anlagen und Bedeutungen wesentlich geändert.
Der Parasit des Eies, der Embryo, überwindet bald seinen Mut-

Von dem Embryo.
etwas Schiefes und für seinen Begriff zu Enges zu enthalten,
weil er zugleich eine in sich mehr abgeschlossene Individualität
bezeichnet. Allein dieses liegt durchaus nicht in seiner Etymo-
logie, da diese nur bezeichnet, daſs etwas von einem anderen,
oder bei einem anderen, oder neben einem anderen iſst oder zehrt.
Auf diese Weise ist weder die relative Selbstständigkeit des an-
strebenden Organismus, noch seine innere, nothwendige und rela-
tive Abhängigkeit von dem anderen Organismus ausgeschlossen.
Es ist auf eine eben so einfache, als treffende Weise der unend-
liche, nie ruhende Kampf bezeichnet, der auch nie aufhören kann,
weil er den unendlichen und höchsten Widerspruch in sich ent-
hält, die Tendenz zur absoluten Selbstständigkeit einerseits und
die Nothwendigkeit, mit Anderen immer in Relation zu bleiben
anderseits. So kann es bei diesem unendlichen Wogen nie zu
einem festen Resultate kommen. Es kann nie Sieg ohne Nieder-
lage, Bestehen ohne Vergehen, Leben ohne Tod seyn. Jede Indi-
vidualität ist nur eine relative, jede Selbstständigkeit eine abhän-
gige und es giebt in der ganzen Natur nur Nüancen, nur ein be-
stimmtes Mehr oder Weniger, nie ein bestimmtes Festes und für
sich Bestehendes. Wenn wir daher ein Wesen individuell nen-
nen, so geschieht dieses nur dadurch, daſs wir, weil es einen
höheren Grad von Selbstständigkeit hat, die Momente, welche seine
Abhängigkeit, seine Verhältnisse zu seinem Mutter- oder Neben-
organismus bezeichnen, in dem Augenblicke auſser Acht lassen.
Da aber dieses ein rein subjectives Verfahren ist, so hat man
auch auf verschiedene Weise die Selbstständigkeit bestimmt und
aufgefaſst, und so kann man die Individualität eines Thieres, eines
an ihm befindlichen Theiles, einer an ihm haftenden Krankheit
mit gleichem Rechte vertheidigen, weil alle diese Verhältnisse nur
reine Abstracta, Unwahrheiten des Reellen sind. In der Natur des
Einzelnen dagegen ist nur ein Streben realisirt, das nie vollendet, ein
Ziel, welches nie erreicht werden kann. — Wenden wir das Gesagte
auf die von uns oben zuletzt erwähnten Säugethiere an, so ist
das Ei ein Parasit der Mutter, die Frucht ein Parasit des Eies.
Beide haben einen gleichen Charakter, eine gleiche Tendenz, bei-
den kommt eine relative Selbstständigkeit zu. Nur wird die zeit-
liche Dauer, so wie die Intensität der letzteren, durch ihre ver-
schiedenen Kräfte, Anlagen und Bedeutungen wesentlich geändert.
Der Parasit des Eies, der Embryo, überwindet bald seinen Mut-

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[556/0584] Von dem Embryo. etwas Schiefes und für seinen Begriff zu Enges zu enthalten, weil er zugleich eine in sich mehr abgeschlossene Individualität bezeichnet. Allein dieses liegt durchaus nicht in seiner Etymo- logie, da diese nur bezeichnet, daſs etwas von einem anderen, oder bei einem anderen, oder neben einem anderen iſst oder zehrt. Auf diese Weise ist weder die relative Selbstständigkeit des an- strebenden Organismus, noch seine innere, nothwendige und rela- tive Abhängigkeit von dem anderen Organismus ausgeschlossen. Es ist auf eine eben so einfache, als treffende Weise der unend- liche, nie ruhende Kampf bezeichnet, der auch nie aufhören kann, weil er den unendlichen und höchsten Widerspruch in sich ent- hält, die Tendenz zur absoluten Selbstständigkeit einerseits und die Nothwendigkeit, mit Anderen immer in Relation zu bleiben anderseits. So kann es bei diesem unendlichen Wogen nie zu einem festen Resultate kommen. Es kann nie Sieg ohne Nieder- lage, Bestehen ohne Vergehen, Leben ohne Tod seyn. Jede Indi- vidualität ist nur eine relative, jede Selbstständigkeit eine abhän- gige und es giebt in der ganzen Natur nur Nüancen, nur ein be- stimmtes Mehr oder Weniger, nie ein bestimmtes Festes und für sich Bestehendes. Wenn wir daher ein Wesen individuell nen- nen, so geschieht dieses nur dadurch, daſs wir, weil es einen höheren Grad von Selbstständigkeit hat, die Momente, welche seine Abhängigkeit, seine Verhältnisse zu seinem Mutter- oder Neben- organismus bezeichnen, in dem Augenblicke auſser Acht lassen. Da aber dieses ein rein subjectives Verfahren ist, so hat man auch auf verschiedene Weise die Selbstständigkeit bestimmt und aufgefaſst, und so kann man die Individualität eines Thieres, eines an ihm befindlichen Theiles, einer an ihm haftenden Krankheit mit gleichem Rechte vertheidigen, weil alle diese Verhältnisse nur reine Abstracta, Unwahrheiten des Reellen sind. In der Natur des Einzelnen dagegen ist nur ein Streben realisirt, das nie vollendet, ein Ziel, welches nie erreicht werden kann. — Wenden wir das Gesagte auf die von uns oben zuletzt erwähnten Säugethiere an, so ist das Ei ein Parasit der Mutter, die Frucht ein Parasit des Eies. Beide haben einen gleichen Charakter, eine gleiche Tendenz, bei- den kommt eine relative Selbstständigkeit zu. Nur wird die zeit- liche Dauer, so wie die Intensität der letzteren, durch ihre ver- schiedenen Kräfte, Anlagen und Bedeutungen wesentlich geändert. Der Parasit des Eies, der Embryo, überwindet bald seinen Mut-

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Zitationshilfe: Valentin, Gabriel Gustav: Handbuch der Entwicklungsgeschichte des Menschen mit vergleichender Rücksicht der Entwicklung der Säugetiere und Vögel. Berlin, 1835, S. 556. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/valentin_entwicklungsgeschichte_1835/584>, abgerufen am 01.09.2024.