gen. Jhre Seele müßte in ihren Gliedmaßen allgegen- wärtig und ausgedehnt seyn: denn man kann die Polypen in viele Theile zerschneiden, und es besteht jeder Theil, als ein neues vollkommnes Thier für sich. Sie müßten wider alle Analogie in der Natur, in jedem Theile ihres Körpers, an mehrern Orten sich bewußt seyn: oder sie müßten aus vielen Seelen bestehen, die gleichwohl, so lange der Po- lyp unzerschnitten ist, stets alle für eine, und eine für alle wirketen, und sobald er zertheilet worden, ihre Herrschaft zertheileten. Wie widersinnig ist nicht dieß alles, und wel- che Vernunft kann sich ohne Widerstreben solchen Folge- rungen ergeben?
4. Weil, wenn auch etwas dem Gehirne Aehnliches in manchen solchen Thieren, z. E. in den Würmern, Schne- cken, Krebsen, Spinnen, Milben, Käfern, Fliegen, Raupen, Läusen, Ameisen, Flöhen, Bienen, und andern Jnsekten und Würmern, gefunden wird, doch keine Spur von einer thierischen Seelenkraft desselben zu finden ist. Das Gehirn ist nicht einmal in den unstreitig beseelten Thieren blos für die thierischen Seelenkräfte allein geschaf- fen; sondern es hat auch Nervenkräfte, und zwar solche, die zu einem thierischen Leben, auch eines unbeseelten Thie- res, nöthig sind, denn dahin gehöret die blos thierische Verrichtung der Abscheidung der Lebensgeister aus dem Blute, und die Ausbreitung derselben durch das ganze Sy- stem aller thierischen Maschinen, ohne welche auch die blo- ßen Nervenkräfte in keinem Thiere wirken können. §. 21. 22. Es ist wahr, dieß ist nur eine Verrichtung der Mark- rinde des Gehirns. §. 159. 374. Allein wer hat es be- wiesen, daß das Gehirn dieser streitigen Thiere etwas mehr, als eine Portion Markrinde sey? und zudem besitzt auch selbst das Gehirnmark, sogar bey beseelten Thieren, aller Wahrscheinlichkeit nach Nervenkräfte, nach welchen es blos wie die Nervenknoten und das Rückenmark, äußere sinnli- che Eindrücke wendet, und innere ohne Vorstellungen sinn- lich annimmt, und durch beyde die mechanischen Maschi-
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2 Kap. Hauptgattungen exiſtirender Thiere.
gen. Jhre Seele muͤßte in ihren Gliedmaßen allgegen- waͤrtig und ausgedehnt ſeyn: denn man kann die Polypen in viele Theile zerſchneiden, und es beſteht jeder Theil, als ein neues vollkommnes Thier fuͤr ſich. Sie muͤßten wider alle Analogie in der Natur, in jedem Theile ihres Koͤrpers, an mehrern Orten ſich bewußt ſeyn: oder ſie muͤßten aus vielen Seelen beſtehen, die gleichwohl, ſo lange der Po- lyp unzerſchnitten iſt, ſtets alle fuͤr eine, und eine fuͤr alle wirketen, und ſobald er zertheilet worden, ihre Herrſchaft zertheileten. Wie widerſinnig iſt nicht dieß alles, und wel- che Vernunft kann ſich ohne Widerſtreben ſolchen Folge- rungen ergeben?
4. Weil, wenn auch etwas dem Gehirne Aehnliches in manchen ſolchen Thieren, z. E. in den Wuͤrmern, Schne- cken, Krebſen, Spinnen, Milben, Kaͤfern, Fliegen, Raupen, Laͤuſen, Ameiſen, Floͤhen, Bienen, und andern Jnſekten und Wuͤrmern, gefunden wird, doch keine Spur von einer thieriſchen Seelenkraft deſſelben zu finden iſt. Das Gehirn iſt nicht einmal in den unſtreitig beſeelten Thieren blos fuͤr die thieriſchen Seelenkraͤfte allein geſchaf- fen; ſondern es hat auch Nervenkraͤfte, und zwar ſolche, die zu einem thieriſchen Leben, auch eines unbeſeelten Thie- res, noͤthig ſind, denn dahin gehoͤret die blos thieriſche Verrichtung der Abſcheidung der Lebensgeiſter aus dem Blute, und die Ausbreitung derſelben durch das ganze Sy- ſtem aller thieriſchen Maſchinen, ohne welche auch die blo- ßen Nervenkraͤfte in keinem Thiere wirken koͤnnen. §. 21. 22. Es iſt wahr, dieß iſt nur eine Verrichtung der Mark- rinde des Gehirns. §. 159. 374. Allein wer hat es be- wieſen, daß das Gehirn dieſer ſtreitigen Thiere etwas mehr, als eine Portion Markrinde ſey? und zudem beſitzt auch ſelbſt das Gehirnmark, ſogar bey beſeelten Thieren, aller Wahrſcheinlichkeit nach Nervenkraͤfte, nach welchen es blos wie die Nervenknoten und das Ruͤckenmark, aͤußere ſinnli- che Eindruͤcke wendet, und innere ohne Vorſtellungen ſinn- lich annimmt, und durch beyde die mechaniſchen Maſchi-
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2 Kap. Hauptgattungen exiſtirender Thiere.
gen. Jhre Seele muͤßte in ihren Gliedmaßen allgegen-
waͤrtig und ausgedehnt ſeyn: denn man kann die Polypen
in viele Theile zerſchneiden, und es beſteht jeder Theil, als
ein neues vollkommnes Thier fuͤr ſich. Sie muͤßten wider
alle Analogie in der Natur, in jedem Theile ihres Koͤrpers,
an mehrern Orten ſich bewußt ſeyn: oder ſie muͤßten aus
vielen Seelen beſtehen, die gleichwohl, ſo lange der Po-
lyp unzerſchnitten iſt, ſtets alle fuͤr eine, und eine fuͤr alle
wirketen, und ſobald er zertheilet worden, ihre Herrſchaft
zertheileten. Wie widerſinnig iſt nicht dieß alles, und wel-
che Vernunft kann ſich ohne Widerſtreben ſolchen Folge-
rungen ergeben?
4. Weil, wenn auch etwas dem Gehirne Aehnliches
in manchen ſolchen Thieren, z. E. in den Wuͤrmern, Schne-
cken, Krebſen, Spinnen, Milben, Kaͤfern, Fliegen,
Raupen, Laͤuſen, Ameiſen, Floͤhen, Bienen, und andern
Jnſekten und Wuͤrmern, gefunden wird, doch keine Spur
von einer thieriſchen Seelenkraft deſſelben zu finden iſt.
Das Gehirn iſt nicht einmal in den unſtreitig beſeelten
Thieren blos fuͤr die thieriſchen Seelenkraͤfte allein geſchaf-
fen; ſondern es hat auch Nervenkraͤfte, und zwar ſolche,
die zu einem thieriſchen Leben, auch eines unbeſeelten Thie-
res, noͤthig ſind, denn dahin gehoͤret die blos thieriſche
Verrichtung der Abſcheidung der Lebensgeiſter aus dem
Blute, und die Ausbreitung derſelben durch das ganze Sy-
ſtem aller thieriſchen Maſchinen, ohne welche auch die blo-
ßen Nervenkraͤfte in keinem Thiere wirken koͤnnen. §. 21.
22. Es iſt wahr, dieß iſt nur eine Verrichtung der Mark-
rinde des Gehirns. §. 159. 374. Allein wer hat es be-
wieſen, daß das Gehirn dieſer ſtreitigen Thiere etwas mehr,
als eine Portion Markrinde ſey? und zudem beſitzt auch
ſelbſt das Gehirnmark, ſogar bey beſeelten Thieren, aller
Wahrſcheinlichkeit nach Nervenkraͤfte, nach welchen es blos
wie die Nervenknoten und das Ruͤckenmark, aͤußere ſinnli-
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Unzer, Johann August: Erste Gründe einer Physiologie der eigentlichen thierischen Natur thierischer Körper. Leipzig, 1771, S. 629. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/unzer_erstegruende_1771/653>, abgerufen am 22.11.2024.
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