also von ihnen Gebrauch gemacht werden darf, muss vorher dargethan werden, dass Leben ein Attribut alles Materiellen ist. Nun geht freilich jene Philosophie von einer unbedingten Thätig- keit der Natur aus, und eine solche ist nichts anders, als das absolute Leben, als die Gottheit selber. Aber mit welchem Rechte lässt sich der Natur unbedingte Thätigkeit zuschreiben, mit welchem Rechte sich Gott und Natur für iden- tisch annehmen? Man sucht vergeblich bey den Anhängern jener Philosophie eine befriedigende Beantwortung dieser Frage. Doch träfe auch die- ser Einwurf nicht, so würde sie der noch treffen, dass mit der Annahme ursprünglicher Qualitäten alle weitere Deduktionen aus dem blossen Begriffe des ursprünglichen Seyns aufhören. Denn nur das lässt sich ohne Hülfe der Erfahrung aus einer höhern Voraussetzung ableiten, was der mathe- matischen Construktion und der Anwendung der mathematischen Analysis fähig ist. Aber für ur- sprüngliche Qualitäten giebt es kein Bild, kein Maass, und keine analytische Formeln. Daher sind jene Philosophen gezwungen, bey ihrem weitern Philosophiren zu dunkeln, unbestimmten Begriffen und Wörtern ihre Zuflucht zu nehmen; daher lässt sich von ihnen das Nehmliche sagen, was Descartes von den Scholastikern sagte: "Ihre Art zu philosophiren ist ganz gemacht für "Geister, die tief unter der Mittelmässigkeit ste-
"hen.
M m 2
also von ihnen Gebrauch gemacht werden darf, muſs vorher dargethan werden, daſs Leben ein Attribut alles Materiellen ist. Nun geht freilich jene Philosophie von einer unbedingten Thätig- keit der Natur aus, und eine solche ist nichts anders, als das absolute Leben, als die Gottheit selber. Aber mit welchem Rechte läſst sich der Natur unbedingte Thätigkeit zuschreiben, mit welchem Rechte sich Gott und Natur für iden- tisch annehmen? Man sucht vergeblich bey den Anhängern jener Philosophie eine befriedigende Beantwortung dieser Frage. Doch träfe auch die- ser Einwurf nicht, so würde sie der noch treffen, daſs mit der Annahme ursprünglicher Qualitäten alle weitere Deduktionen aus dem bloſsen Begriffe des ursprünglichen Seyns aufhören. Denn nur das läſst sich ohne Hülfe der Erfahrung aus einer höhern Voraussetzung ableiten, was der mathe- matischen Construktion und der Anwendung der mathematischen Analysis fähig ist. Aber für ur- sprüngliche Qualitäten giebt es kein Bild, kein Maaſs, und keine analytische Formeln. Daher sind jene Philosophen gezwungen, bey ihrem weitern Philosophiren zu dunkeln, unbestimmten Begriffen und Wörtern ihre Zuflucht zu nehmen; daher läſst sich von ihnen das Nehmliche sagen, was Descartes von den Scholastikern sagte: “Ihre Art zu philosophiren ist ganz gemacht für „Geister, die tief unter der Mittelmäſsigkeit ste-
„hen.
M m 2
<TEI><text><body><divn="1"><divn="3"><p><pbfacs="#f0557"n="547"/>
also von ihnen Gebrauch gemacht werden darf,<lb/>
muſs vorher dargethan werden, daſs Leben ein<lb/>
Attribut alles Materiellen ist. Nun geht freilich<lb/>
jene Philosophie von einer unbedingten Thätig-<lb/>
keit der Natur aus, und eine solche ist nichts<lb/>
anders, als das absolute Leben, als die Gottheit<lb/>
selber. Aber mit welchem Rechte läſst sich der<lb/>
Natur unbedingte Thätigkeit zuschreiben, mit<lb/>
welchem Rechte sich Gott und Natur für iden-<lb/>
tisch annehmen? Man sucht vergeblich bey den<lb/>
Anhängern jener Philosophie eine befriedigende<lb/>
Beantwortung dieser Frage. Doch träfe auch die-<lb/>
ser Einwurf nicht, so würde sie der noch treffen,<lb/>
daſs mit der Annahme ursprünglicher Qualitäten alle<lb/>
weitere Deduktionen aus dem bloſsen Begriffe<lb/>
des ursprünglichen Seyns aufhören. Denn nur<lb/>
das läſst sich ohne Hülfe der Erfahrung aus einer<lb/>
höhern Voraussetzung ableiten, was der mathe-<lb/>
matischen Construktion und der Anwendung der<lb/>
mathematischen Analysis fähig ist. Aber für ur-<lb/>
sprüngliche Qualitäten giebt es kein Bild, kein<lb/>
Maaſs, und keine analytische Formeln. Daher<lb/>
sind jene Philosophen gezwungen, bey ihrem<lb/>
weitern Philosophiren zu dunkeln, unbestimmten<lb/>
Begriffen und Wörtern ihre Zuflucht zu nehmen;<lb/>
daher läſst sich von ihnen das Nehmliche sagen,<lb/>
was <hirendition="#k">Descartes</hi> von den Scholastikern sagte:<lb/>“Ihre Art zu philosophiren ist ganz gemacht für<lb/>„Geister, die tief unter der Mittelmäſsigkeit ste-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">M m 2</fw><fwplace="bottom"type="catch">„hen.</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[547/0557]
also von ihnen Gebrauch gemacht werden darf,
muſs vorher dargethan werden, daſs Leben ein
Attribut alles Materiellen ist. Nun geht freilich
jene Philosophie von einer unbedingten Thätig-
keit der Natur aus, und eine solche ist nichts
anders, als das absolute Leben, als die Gottheit
selber. Aber mit welchem Rechte läſst sich der
Natur unbedingte Thätigkeit zuschreiben, mit
welchem Rechte sich Gott und Natur für iden-
tisch annehmen? Man sucht vergeblich bey den
Anhängern jener Philosophie eine befriedigende
Beantwortung dieser Frage. Doch träfe auch die-
ser Einwurf nicht, so würde sie der noch treffen,
daſs mit der Annahme ursprünglicher Qualitäten alle
weitere Deduktionen aus dem bloſsen Begriffe
des ursprünglichen Seyns aufhören. Denn nur
das läſst sich ohne Hülfe der Erfahrung aus einer
höhern Voraussetzung ableiten, was der mathe-
matischen Construktion und der Anwendung der
mathematischen Analysis fähig ist. Aber für ur-
sprüngliche Qualitäten giebt es kein Bild, kein
Maaſs, und keine analytische Formeln. Daher
sind jene Philosophen gezwungen, bey ihrem
weitern Philosophiren zu dunkeln, unbestimmten
Begriffen und Wörtern ihre Zuflucht zu nehmen;
daher läſst sich von ihnen das Nehmliche sagen,
was Descartes von den Scholastikern sagte:
“Ihre Art zu philosophiren ist ganz gemacht für
„Geister, die tief unter der Mittelmäſsigkeit ste-
„hen.
M m 2
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 3. Göttingen, 1805, S. 547. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie03_1805/557>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.