bey seinen Betrachtungen über die lebende Welt aufstossen. Tod und öde Stille
Et Chaos, et Phlegeton, loca nocte silentia late.
sind für ihn schauderhafte Vorstellungen. Und es sollte ein so ganz verdienstloses Werk seyn, das, was Erfahrung und Nachdenken uns über diesen erhabenen Gegenstand gelehrt haben, und was bisher in den verschiedensten Fächern zerstreut lag, zu einem Ganzen zu vereinigen? Es ist eine längst anerkannte, aber noch nie gehörig angewandte Wahrheit, dass der Mensch nur durch eine gleich- förmige Entwickelung aller seiner Geisteskräfte, und nicht durch eine einseitige, wenn auch noch so weit getriebene Cultur zur höchsten Stufe der Humanität gelangt. Der blosse Geometer, der immer nur mit den reitzlosen Bildern des Raums beschäftigt ist, erreicht diese eben so wenig, als der blosse Dichter, der nie das Zauberland der Phantasien verlässt. Aber wo ist eine Wissenschaft, die den Verstand und zugleich die Einbildungskraft so sehr in Thätigkeit erhält, und daher der Erzie- hung des Menschen zur Humanität so angemessen ist, als diejenige, die wir in diesem Werke zu bearbeiten uns vorgesetzt haben? Ihr werdet doch nicht das, was man bisher Naturgeschichte nannte, dafür annehmen, es müsste denn seyn, dass ihr die bunten Farben der Blumen und Schmetterlinge für Mittel zur Cultur der Phantasie hieltet, und Schärfung des Verstandes durch Erlernung will-
kühr-
bey seinen Betrachtungen über die lebende Welt aufstoſsen. Tod und öde Stille
Et Chaos, et Phlegeton, loca nocte silentia late.
sind für ihn schauderhafte Vorstellungen. Und es sollte ein so ganz verdienstloses Werk seyn, das, was Erfahrung und Nachdenken uns über diesen erhabenen Gegenstand gelehrt haben, und was bisher in den verschiedensten Fächern zerstreut lag, zu einem Ganzen zu vereinigen? Es ist eine längst anerkannte, aber noch nie gehörig angewandte Wahrheit, daſs der Mensch nur durch eine gleich- förmige Entwickelung aller seiner Geisteskräfte, und nicht durch eine einseitige, wenn auch noch so weit getriebene Cultur zur höchsten Stufe der Humanität gelangt. Der bloſse Geometer, der immer nur mit den reitzlosen Bildern des Raums beschäftigt ist, erreicht diese eben so wenig, als der bloſse Dichter, der nie das Zauberland der Phantasien verläſst. Aber wo ist eine Wissenschaft, die den Verstand und zugleich die Einbildungskraft so sehr in Thätigkeit erhält, und daher der Erzie- hung des Menschen zur Humanität so angemessen ist, als diejenige, die wir in diesem Werke zu bearbeiten uns vorgesetzt haben? Ihr werdet doch nicht das, was man bisher Naturgeschichte nannte, dafür annehmen, es müſste denn seyn, daſs ihr die bunten Farben der Blumen und Schmetterlinge für Mittel zur Cultur der Phantasie hieltet, und Schärfung des Verstandes durch Erlernung will-
kühr-
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bey seinen Betrachtungen über die lebende Welt
aufstoſsen. Tod und öde Stille
Et Chaos, et Phlegeton, loca nocte silentia late.
sind für ihn schauderhafte Vorstellungen. Und es
sollte ein so ganz verdienstloses Werk seyn, das,
was Erfahrung und Nachdenken uns über diesen
erhabenen Gegenstand gelehrt haben, und was
bisher in den verschiedensten Fächern zerstreut lag,
zu einem Ganzen zu vereinigen? Es ist eine längst
anerkannte, aber noch nie gehörig angewandte
Wahrheit, daſs der Mensch nur durch eine gleich-
förmige Entwickelung aller seiner Geisteskräfte,
und nicht durch eine einseitige, wenn auch noch
so weit getriebene Cultur zur höchsten Stufe der
Humanität gelangt. Der bloſse Geometer, der
immer nur mit den reitzlosen Bildern des Raums
beschäftigt ist, erreicht diese eben so wenig, als
der bloſse Dichter, der nie das Zauberland der
Phantasien verläſst. Aber wo ist eine Wissenschaft,
die den Verstand und zugleich die Einbildungskraft
so sehr in Thätigkeit erhält, und daher der Erzie-
hung des Menschen zur Humanität so angemessen
ist, als diejenige, die wir in diesem Werke zu
bearbeiten uns vorgesetzt haben? Ihr werdet doch
nicht das, was man bisher Naturgeschichte nannte,
dafür annehmen, es müſste denn seyn, daſs ihr
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Treviranus, Gottfried Reinhold: Biologie, oder Philosophie der lebenden Natur für Naturforscher und Ärzte. Bd. 1. Göttingen, 1802, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treviranus_biologie01_1802/26>, abgerufen am 22.11.2024.
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