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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Schlacht von Nisib.
zehnten Jahrhunderts eine Siegeslaufbahn ohne gleichen, er selbst freilich
schuldlos, mit der Niederlage von Nisib. An den Gräueln dieses Rück-
zugs lernte er, was die sittlichen Mächte im Kriege bedeuten; derweil er
das unwegsame Land durchritt behielt er immer noch Zeit und Gleich-
muth um seine geliebten Landkarten ebenso gewissenhaft zu ergänzen, wie
er früherhin den einzigen treuen Plan von dem unübersehbaren Gassen-
gewirr Konstantinopels gezeichnet hatte. Nach der Heimkehr sammelte er
dann seine Briefe aus der Türkei und ließ das classische Werk wie ein
bescheidener Anfänger durch ein Vorwort Karl Ritter's in die gelehrte
Welt einführen; seine geistvolle ältere Schrift über Polen hatte ja nur
wenig Leser gefunden.

Die Niederlage war vollständig. Auch die anderen türkischen Trup-
pen in Kleinasien lösten sich auf, obgleich der Sohn Mehemed Ali's, dem
eigenen Heere mißtrauend, seinen Sieg nicht zu verfolgen wagte. In-
mitten dieser allgemeinen Verwirrung starb Sultan Machmud plötzlich, noch
bevor die Schreckenskunde aus Nisib ihn erreichte -- die letzte große tra-
gische Gestalt der osmanischen Geschichte. Bis über die Kniee war er
im Blute gewatet um seinem Volke eine höhere Gesittung zu bringen,
und verzweifelnd sank er ins Grab im Bewußtsein eines verfehlten Lebens.
Die Zeitgenossen verglichen ihn gern mit Peter dem Großen, die Er-
mordung der Janitscharen mit der Vernichtung der Strelitzen. Doch der
geniale Barbar des Nordens beherrschte ein christliches und darum bei
aller Roheit bildsames Volk. Die Osmanen blieben eine Reiterhorde
des Ostens, geschaffen für die Zelte der Wüste, der Cultur gänzlich un-
zugänglich, bei den anderen muhamedanischen Völkern selbst wegen ihrer
Stumpfheit verrufen; sie glichen jenen harmlosen wilden Hunden, welche
Tags über in den Gassen Stambuls schlafen, bei Nacht den Unrath aus
den Häusern fressen, aber sobald man sie ins Haus nimmt jeder Erziehung
trotzen und aus Sehnsucht nach der Freiheit bald dahinsterben. Nunmehr
bestieg Abdul Medschid den Thron, Machmud's junger schwächlicher Sohn,
der nie zum Manne heranreifte. Zur selben Zeit segelte die türkische
Flotte von den Dardanellen südwärts, nicht ohne die geheime Mitwirkung
des französischen Admirals Lalande, und vereinigte sich vor Alexandria
mit den Schiffen des ägyptischen Rebellen. Also ohne Heer, ohne Flotte,
ohne einen kräftigen Herrscher schien das osmanische Reich, zum dritten
male binnen elf Jahren, dem sicheren Untergange zu verfallen. Da
die Integrität der Türkei von allen Großmächten -- ehrlich oder nicht --
für eine europäische Nothwendigkeit erklärt war, so ergriff die Gesandten
der fünf Mächte ein jäher Schrecken. Sie traten zusammen und auf
das Andringen des österreichischen Internuntius Stürmer ermahnten sie
die Pforte durch eine gemeinsame Note vom 27. Juli 1839, nicht eher
mit dem Aegypter abzuschließen als bis Europa gesprochen hätte. Metter-
nich triumphirte, er meinte die Türkei gerettet und das Schicksal des

5*

Schlacht von Niſib.
zehnten Jahrhunderts eine Siegeslaufbahn ohne gleichen, er ſelbſt freilich
ſchuldlos, mit der Niederlage von Niſib. An den Gräueln dieſes Rück-
zugs lernte er, was die ſittlichen Mächte im Kriege bedeuten; derweil er
das unwegſame Land durchritt behielt er immer noch Zeit und Gleich-
muth um ſeine geliebten Landkarten ebenſo gewiſſenhaft zu ergänzen, wie
er früherhin den einzigen treuen Plan von dem unüberſehbaren Gaſſen-
gewirr Konſtantinopels gezeichnet hatte. Nach der Heimkehr ſammelte er
dann ſeine Briefe aus der Türkei und ließ das claſſiſche Werk wie ein
beſcheidener Anfänger durch ein Vorwort Karl Ritter’s in die gelehrte
Welt einführen; ſeine geiſtvolle ältere Schrift über Polen hatte ja nur
wenig Leſer gefunden.

Die Niederlage war vollſtändig. Auch die anderen türkiſchen Trup-
pen in Kleinaſien löſten ſich auf, obgleich der Sohn Mehemed Ali’s, dem
eigenen Heere mißtrauend, ſeinen Sieg nicht zu verfolgen wagte. In-
mitten dieſer allgemeinen Verwirrung ſtarb Sultan Machmud plötzlich, noch
bevor die Schreckenskunde aus Niſib ihn erreichte — die letzte große tra-
giſche Geſtalt der osmaniſchen Geſchichte. Bis über die Kniee war er
im Blute gewatet um ſeinem Volke eine höhere Geſittung zu bringen,
und verzweifelnd ſank er ins Grab im Bewußtſein eines verfehlten Lebens.
Die Zeitgenoſſen verglichen ihn gern mit Peter dem Großen, die Er-
mordung der Janitſcharen mit der Vernichtung der Strelitzen. Doch der
geniale Barbar des Nordens beherrſchte ein chriſtliches und darum bei
aller Roheit bildſames Volk. Die Osmanen blieben eine Reiterhorde
des Oſtens, geſchaffen für die Zelte der Wüſte, der Cultur gänzlich un-
zugänglich, bei den anderen muhamedaniſchen Völkern ſelbſt wegen ihrer
Stumpfheit verrufen; ſie glichen jenen harmloſen wilden Hunden, welche
Tags über in den Gaſſen Stambuls ſchlafen, bei Nacht den Unrath aus
den Häuſern freſſen, aber ſobald man ſie ins Haus nimmt jeder Erziehung
trotzen und aus Sehnſucht nach der Freiheit bald dahinſterben. Nunmehr
beſtieg Abdul Medſchid den Thron, Machmud’s junger ſchwächlicher Sohn,
der nie zum Manne heranreifte. Zur ſelben Zeit ſegelte die türkiſche
Flotte von den Dardanellen ſüdwärts, nicht ohne die geheime Mitwirkung
des franzöſiſchen Admirals Lalande, und vereinigte ſich vor Alexandria
mit den Schiffen des ägyptiſchen Rebellen. Alſo ohne Heer, ohne Flotte,
ohne einen kräftigen Herrſcher ſchien das osmaniſche Reich, zum dritten
male binnen elf Jahren, dem ſicheren Untergange zu verfallen. Da
die Integrität der Türkei von allen Großmächten — ehrlich oder nicht —
für eine europäiſche Nothwendigkeit erklärt war, ſo ergriff die Geſandten
der fünf Mächte ein jäher Schrecken. Sie traten zuſammen und auf
das Andringen des öſterreichiſchen Internuntius Stürmer ermahnten ſie
die Pforte durch eine gemeinſame Note vom 27. Juli 1839, nicht eher
mit dem Aegypter abzuſchließen als bis Europa geſprochen hätte. Metter-
nich triumphirte, er meinte die Türkei gerettet und das Schickſal des

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[67/0081] Schlacht von Niſib. zehnten Jahrhunderts eine Siegeslaufbahn ohne gleichen, er ſelbſt freilich ſchuldlos, mit der Niederlage von Niſib. An den Gräueln dieſes Rück- zugs lernte er, was die ſittlichen Mächte im Kriege bedeuten; derweil er das unwegſame Land durchritt behielt er immer noch Zeit und Gleich- muth um ſeine geliebten Landkarten ebenſo gewiſſenhaft zu ergänzen, wie er früherhin den einzigen treuen Plan von dem unüberſehbaren Gaſſen- gewirr Konſtantinopels gezeichnet hatte. Nach der Heimkehr ſammelte er dann ſeine Briefe aus der Türkei und ließ das claſſiſche Werk wie ein beſcheidener Anfänger durch ein Vorwort Karl Ritter’s in die gelehrte Welt einführen; ſeine geiſtvolle ältere Schrift über Polen hatte ja nur wenig Leſer gefunden. Die Niederlage war vollſtändig. Auch die anderen türkiſchen Trup- pen in Kleinaſien löſten ſich auf, obgleich der Sohn Mehemed Ali’s, dem eigenen Heere mißtrauend, ſeinen Sieg nicht zu verfolgen wagte. In- mitten dieſer allgemeinen Verwirrung ſtarb Sultan Machmud plötzlich, noch bevor die Schreckenskunde aus Niſib ihn erreichte — die letzte große tra- giſche Geſtalt der osmaniſchen Geſchichte. Bis über die Kniee war er im Blute gewatet um ſeinem Volke eine höhere Geſittung zu bringen, und verzweifelnd ſank er ins Grab im Bewußtſein eines verfehlten Lebens. Die Zeitgenoſſen verglichen ihn gern mit Peter dem Großen, die Er- mordung der Janitſcharen mit der Vernichtung der Strelitzen. Doch der geniale Barbar des Nordens beherrſchte ein chriſtliches und darum bei aller Roheit bildſames Volk. Die Osmanen blieben eine Reiterhorde des Oſtens, geſchaffen für die Zelte der Wüſte, der Cultur gänzlich un- zugänglich, bei den anderen muhamedaniſchen Völkern ſelbſt wegen ihrer Stumpfheit verrufen; ſie glichen jenen harmloſen wilden Hunden, welche Tags über in den Gaſſen Stambuls ſchlafen, bei Nacht den Unrath aus den Häuſern freſſen, aber ſobald man ſie ins Haus nimmt jeder Erziehung trotzen und aus Sehnſucht nach der Freiheit bald dahinſterben. Nunmehr beſtieg Abdul Medſchid den Thron, Machmud’s junger ſchwächlicher Sohn, der nie zum Manne heranreifte. Zur ſelben Zeit ſegelte die türkiſche Flotte von den Dardanellen ſüdwärts, nicht ohne die geheime Mitwirkung des franzöſiſchen Admirals Lalande, und vereinigte ſich vor Alexandria mit den Schiffen des ägyptiſchen Rebellen. Alſo ohne Heer, ohne Flotte, ohne einen kräftigen Herrſcher ſchien das osmaniſche Reich, zum dritten male binnen elf Jahren, dem ſicheren Untergange zu verfallen. Da die Integrität der Türkei von allen Großmächten — ehrlich oder nicht — für eine europäiſche Nothwendigkeit erklärt war, ſo ergriff die Geſandten der fünf Mächte ein jäher Schrecken. Sie traten zuſammen und auf das Andringen des öſterreichiſchen Internuntius Stürmer ermahnten ſie die Pforte durch eine gemeinſame Note vom 27. Juli 1839, nicht eher mit dem Aegypter abzuſchließen als bis Europa geſprochen hätte. Metter- nich triumphirte, er meinte die Türkei gerettet und das Schickſal des 5*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/81>, abgerufen am 28.03.2024.