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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Englische Welteroberung.
hin die Macht des Unheils, überall, sogar im Mittelmeer und im Oriente,
wo die Interessen der beiden Mächte sich doch keineswegs feindlich be-
rührten. Daß Rußland und Frankreich sich über irgend eine europäische
Frage ehrlich verständigen könnten, schien vorderhand rein unmöglich; das
unter seiner schwachen Greisenherrschaft mehr und mehr erstarrende Oester-
reich that auch gar nichts die beiden Feinde zu versöhnen.

Also herrschte auf dem Festlande wieder jener Zustand schleichenden
Unfriedens, dessen England für seine Pläne bedurfte, und niemals hat
sich die alte Wahrheit, daß Kaufmannspolitik die unsittlichste von allen
ist, so grell gezeigt wie in diesen Jahren. Unbehelligt durch die hadernden
Großmächte durfte Palmerston, nach seiner unritterlichen Weise, den bri-
tischen Uebermuth an den Schwachen auslassen. Mit Neapel begann
er Streit wegen des sicilianischen Schwefelhandels, mit Portugal wegen
der Opfer des letzten Bürgerkrieges, eines Krieges, welchen England selbst
geflissentlich geschürt hatte. Mit Serbien schloß er einen Handelsvertrag
und versuchte zugleich den Fürsten Milosch zur Aufhebung der Verfassung
zu drängen. Mitten im Frieden wurde 1839 das Felsennest Aden geraubt,
der Schlüssel zum Rothen Meere, das Gibraltar des Ostens. Gleich
darauf begann der Opiumkrieg, der scheußlichste von allen, welchen jemals
ein christliches Volk geführt hat; die Chinesen wurden gezwungen den
Opium-Schmuggel aus Ostindien zu dulden, und während England ihre
Leiber vergiftete, suchte es ihre Seelen durch die Bekehrungspredigten
seiner Missionäre zu retten. An stärkere Gegner wagte sich Palmerston nur
mit den Waffen der Arglist. Jedermann ahnte, daß das neutrale England
die Tscherkessen in ihrem Kampfe gegen Rußland insgeheim unterstützte;
ruchbar ward das Geheimniß erst, als die Russen an der kaukasischen
Küste das mit Waffen befrachtete Schiff Vixen aufgriffen. Noch schwe-
rere Sorgen erregte dem Londoner Hofe die Besetzung Algeriens, das
letzte und beste Vermächtniß der französischen Bourbonen. Nach engli-
scher Auffassung gehörte ganz Afrika von Rechtswegen den Briten. Selbst
der friedfertige Lord Aberdeen sagte zu dem preußischen Gesandten höh-
nisch: die Franzosen haben Algier "für immer" mit Frankreich vereinigt;
dies "für immer" bedeutet: bis der Krieg erklärt wird, bis das erste
englische Linienschiff im Hafen von Algier erscheint! Dieses schöne zukunfts-
reiche Pflanzungsland der Franzosen zu zerstören war jedes Briten Herzens-
wunsch; darum konnte Frankreichs gefährlicher Feind, der heldenkühne
Abdelkader jederzeit auf Englands geheimen Beistand zählen.

Gegenüber einer solchen, völlig gewissenlosen, überall in der Welt
hetzenden und bohrenden Handelspolitik erschienen alle anderen Cultur-
völker als natürliche Bundesgenossen. England war der Hort der Bar-
barei im Völkerrechte. England allein verschuldete, daß der Seekrieg, zur
Schande der Menschheit, noch immer ein organisirter Seeraub blieb.
Allen Völkern gemeinsam lag die Aufgabe ob, auch auf den Meeren das

Engliſche Welteroberung.
hin die Macht des Unheils, überall, ſogar im Mittelmeer und im Oriente,
wo die Intereſſen der beiden Mächte ſich doch keineswegs feindlich be-
rührten. Daß Rußland und Frankreich ſich über irgend eine europäiſche
Frage ehrlich verſtändigen könnten, ſchien vorderhand rein unmöglich; das
unter ſeiner ſchwachen Greiſenherrſchaft mehr und mehr erſtarrende Oeſter-
reich that auch gar nichts die beiden Feinde zu verſöhnen.

Alſo herrſchte auf dem Feſtlande wieder jener Zuſtand ſchleichenden
Unfriedens, deſſen England für ſeine Pläne bedurfte, und niemals hat
ſich die alte Wahrheit, daß Kaufmannspolitik die unſittlichſte von allen
iſt, ſo grell gezeigt wie in dieſen Jahren. Unbehelligt durch die hadernden
Großmächte durfte Palmerſton, nach ſeiner unritterlichen Weiſe, den bri-
tiſchen Uebermuth an den Schwachen auslaſſen. Mit Neapel begann
er Streit wegen des ſicilianiſchen Schwefelhandels, mit Portugal wegen
der Opfer des letzten Bürgerkrieges, eines Krieges, welchen England ſelbſt
gefliſſentlich geſchürt hatte. Mit Serbien ſchloß er einen Handelsvertrag
und verſuchte zugleich den Fürſten Miloſch zur Aufhebung der Verfaſſung
zu drängen. Mitten im Frieden wurde 1839 das Felſenneſt Aden geraubt,
der Schlüſſel zum Rothen Meere, das Gibraltar des Oſtens. Gleich
darauf begann der Opiumkrieg, der ſcheußlichſte von allen, welchen jemals
ein chriſtliches Volk geführt hat; die Chineſen wurden gezwungen den
Opium-Schmuggel aus Oſtindien zu dulden, und während England ihre
Leiber vergiftete, ſuchte es ihre Seelen durch die Bekehrungspredigten
ſeiner Miſſionäre zu retten. An ſtärkere Gegner wagte ſich Palmerſton nur
mit den Waffen der Argliſt. Jedermann ahnte, daß das neutrale England
die Tſcherkeſſen in ihrem Kampfe gegen Rußland insgeheim unterſtützte;
ruchbar ward das Geheimniß erſt, als die Ruſſen an der kaukaſiſchen
Küſte das mit Waffen befrachtete Schiff Vixen aufgriffen. Noch ſchwe-
rere Sorgen erregte dem Londoner Hofe die Beſetzung Algeriens, das
letzte und beſte Vermächtniß der franzöſiſchen Bourbonen. Nach engli-
ſcher Auffaſſung gehörte ganz Afrika von Rechtswegen den Briten. Selbſt
der friedfertige Lord Aberdeen ſagte zu dem preußiſchen Geſandten höh-
niſch: die Franzoſen haben Algier „für immer“ mit Frankreich vereinigt;
dies „für immer“ bedeutet: bis der Krieg erklärt wird, bis das erſte
engliſche Linienſchiff im Hafen von Algier erſcheint! Dieſes ſchöne zukunfts-
reiche Pflanzungsland der Franzoſen zu zerſtören war jedes Briten Herzens-
wunſch; darum konnte Frankreichs gefährlicher Feind, der heldenkühne
Abdelkader jederzeit auf Englands geheimen Beiſtand zählen.

Gegenüber einer ſolchen, völlig gewiſſenloſen, überall in der Welt
hetzenden und bohrenden Handelspolitik erſchienen alle anderen Cultur-
völker als natürliche Bundesgenoſſen. England war der Hort der Bar-
barei im Völkerrechte. England allein verſchuldete, daß der Seekrieg, zur
Schande der Menſchheit, noch immer ein organiſirter Seeraub blieb.
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[63/0077] Engliſche Welteroberung. hin die Macht des Unheils, überall, ſogar im Mittelmeer und im Oriente, wo die Intereſſen der beiden Mächte ſich doch keineswegs feindlich be- rührten. Daß Rußland und Frankreich ſich über irgend eine europäiſche Frage ehrlich verſtändigen könnten, ſchien vorderhand rein unmöglich; das unter ſeiner ſchwachen Greiſenherrſchaft mehr und mehr erſtarrende Oeſter- reich that auch gar nichts die beiden Feinde zu verſöhnen. Alſo herrſchte auf dem Feſtlande wieder jener Zuſtand ſchleichenden Unfriedens, deſſen England für ſeine Pläne bedurfte, und niemals hat ſich die alte Wahrheit, daß Kaufmannspolitik die unſittlichſte von allen iſt, ſo grell gezeigt wie in dieſen Jahren. Unbehelligt durch die hadernden Großmächte durfte Palmerſton, nach ſeiner unritterlichen Weiſe, den bri- tiſchen Uebermuth an den Schwachen auslaſſen. Mit Neapel begann er Streit wegen des ſicilianiſchen Schwefelhandels, mit Portugal wegen der Opfer des letzten Bürgerkrieges, eines Krieges, welchen England ſelbſt gefliſſentlich geſchürt hatte. Mit Serbien ſchloß er einen Handelsvertrag und verſuchte zugleich den Fürſten Miloſch zur Aufhebung der Verfaſſung zu drängen. Mitten im Frieden wurde 1839 das Felſenneſt Aden geraubt, der Schlüſſel zum Rothen Meere, das Gibraltar des Oſtens. Gleich darauf begann der Opiumkrieg, der ſcheußlichſte von allen, welchen jemals ein chriſtliches Volk geführt hat; die Chineſen wurden gezwungen den Opium-Schmuggel aus Oſtindien zu dulden, und während England ihre Leiber vergiftete, ſuchte es ihre Seelen durch die Bekehrungspredigten ſeiner Miſſionäre zu retten. An ſtärkere Gegner wagte ſich Palmerſton nur mit den Waffen der Argliſt. Jedermann ahnte, daß das neutrale England die Tſcherkeſſen in ihrem Kampfe gegen Rußland insgeheim unterſtützte; ruchbar ward das Geheimniß erſt, als die Ruſſen an der kaukaſiſchen Küſte das mit Waffen befrachtete Schiff Vixen aufgriffen. Noch ſchwe- rere Sorgen erregte dem Londoner Hofe die Beſetzung Algeriens, das letzte und beſte Vermächtniß der franzöſiſchen Bourbonen. Nach engli- ſcher Auffaſſung gehörte ganz Afrika von Rechtswegen den Briten. Selbſt der friedfertige Lord Aberdeen ſagte zu dem preußiſchen Geſandten höh- niſch: die Franzoſen haben Algier „für immer“ mit Frankreich vereinigt; dies „für immer“ bedeutet: bis der Krieg erklärt wird, bis das erſte engliſche Linienſchiff im Hafen von Algier erſcheint! Dieſes ſchöne zukunfts- reiche Pflanzungsland der Franzoſen zu zerſtören war jedes Briten Herzens- wunſch; darum konnte Frankreichs gefährlicher Feind, der heldenkühne Abdelkader jederzeit auf Englands geheimen Beiſtand zählen. Gegenüber einer ſolchen, völlig gewiſſenloſen, überall in der Welt hetzenden und bohrenden Handelspolitik erſchienen alle anderen Cultur- völker als natürliche Bundesgenoſſen. England war der Hort der Bar- barei im Völkerrechte. England allein verſchuldete, daß der Seekrieg, zur Schande der Menſchheit, noch immer ein organiſirter Seeraub blieb. Allen Völkern gemeinſam lag die Aufgabe ob, auch auf den Meeren das

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/77>, abgerufen am 23.11.2024.