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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 2. Die Kriegsgefahr.

Zwischen Frankreich und Rußland ward die Kluft mit den Jahren
immer breiter, obgleich die erstarkende altmoskowitische Partei am Peters-
burger Hofe ein Bündniß der beiden Mächte gegen Deutschland dringend
wünschte, und der Czar seinem preußischen Vertrauten Oberst Rauch oft
gestand: außer mir selbst sind nur noch Nesselrode und Orlow aufrichtige
Freunde der deutschen Allianz. Noch immer wollte Nikolaus sich nicht ent-
schließen dem französischen Thronräuber zu verzeihen; er fand es schamlos,
daß Ludwig Philipp nach der Geburt seines Thronerben, des Grafen von
Paris, von der Fortdauer seiner Rasse zu reden wagte, und konnte sich
den ruhigen Schritt der preußischen Politik, die in Wahrheit von dem
alten Könige selbst geleitet wurde, nur aus der Schwäche Ancillon's --
"Monsieur Vacillant's" -- erklären. Halsstarrig blieb er bei seiner alten
Meinung, daß der Weltkrieg gegen den Staat der Revolution noch kommen
müsse. Die Lage Preußens malte er sich in den dunkelsten Farben, weil
er sie also sehen wollte und immer noch mit der Hoffnung spielte, seine
formidable russische Reserve würde dereinst die Deutschen aus den Klauen
der Jacobiner retten. Während des Kölner Bischofsstreites erkannte er
sogleich, daß Oesterreich sich nicht als ehrlicher Freund Preußens zeigte,
und meinte: nun werde Frankreich den günstigen Augenblick benutzen
um den Krieg alsbald auf dem rechten Rheinufer zu eröffnen. Das
Alles, so betheuerte er heilig, sagte er nur "aus kindlicher Verehrung für
den geliebten Vater". Rauch aber erwiderte stolz: kommt der Krieg, so
werden wir selbst die Angreifer sein.*) Unablässig, und in immer schärferem
Tone wiederholte der Czar seine Beschwerden über die Umtriebe der pol-
nischen Propaganda; mehrmals befahl er seinem Botschafter Paris auf
längere Zeit zu verlassen. Seine Ungezogenheit wurde so widerwärtig,
daß Ludwig Philipp verzweifelnd ausrief: "ich werde mir meine Verbün-
deten anderswo suchen."

Als der alte König dies erfuhr, ließ er seinem Schwiegersohne sagen:
"Ludwig Philipp hat zum Oefteren die Neigung gezeigt sich den Conti-
nentalmächten zu nähern und in ihrem Sinne zu handeln. So lange
indessen der Kaiser seine Antipathien gegen ihn nicht zu überwinden im
Stande ist und sich hierüber unverhohlen, ganz offen, ausspricht, so lange
wird auch auf Ludwig Philipp wenig zu rechnen sein und er allerdings an-
dere Alliirte suchen müssen. Wollte der Kaiser aber an seiner vorgefaßten
Meinung in etwas nachlassen, so wäre es auch ein großer Gewinn für
die conservative Partei."**) Die Mahnung fand taube Ohren. Der Czar
fuhr fort dem Bürgerkönige bei jeder Gelegenheit seine Mißachtung zu
zeigen, bis dieser endlich einen tiefen persönlichen Haß gegen den unver-
söhnlichen Peiniger faßte. Nach Nikolaus' Meinung war Frankreich schlecht-

*) Rauch's Bericht, 26. Dec. 1837.
**) Rauch's Bericht, 23. Juli 1837, nebst Randbemerkung des Königs.
V. 2. Die Kriegsgefahr.

Zwiſchen Frankreich und Rußland ward die Kluft mit den Jahren
immer breiter, obgleich die erſtarkende altmoskowitiſche Partei am Peters-
burger Hofe ein Bündniß der beiden Mächte gegen Deutſchland dringend
wünſchte, und der Czar ſeinem preußiſchen Vertrauten Oberſt Rauch oft
geſtand: außer mir ſelbſt ſind nur noch Neſſelrode und Orlow aufrichtige
Freunde der deutſchen Allianz. Noch immer wollte Nikolaus ſich nicht ent-
ſchließen dem franzöſiſchen Thronräuber zu verzeihen; er fand es ſchamlos,
daß Ludwig Philipp nach der Geburt ſeines Thronerben, des Grafen von
Paris, von der Fortdauer ſeiner Raſſe zu reden wagte, und konnte ſich
den ruhigen Schritt der preußiſchen Politik, die in Wahrheit von dem
alten Könige ſelbſt geleitet wurde, nur aus der Schwäche Ancillon’s —
„Monſieur Vacillant’s“ — erklären. Halsſtarrig blieb er bei ſeiner alten
Meinung, daß der Weltkrieg gegen den Staat der Revolution noch kommen
müſſe. Die Lage Preußens malte er ſich in den dunkelſten Farben, weil
er ſie alſo ſehen wollte und immer noch mit der Hoffnung ſpielte, ſeine
formidable ruſſiſche Reſerve würde dereinſt die Deutſchen aus den Klauen
der Jacobiner retten. Während des Kölner Biſchofsſtreites erkannte er
ſogleich, daß Oeſterreich ſich nicht als ehrlicher Freund Preußens zeigte,
und meinte: nun werde Frankreich den günſtigen Augenblick benutzen
um den Krieg alsbald auf dem rechten Rheinufer zu eröffnen. Das
Alles, ſo betheuerte er heilig, ſagte er nur „aus kindlicher Verehrung für
den geliebten Vater“. Rauch aber erwiderte ſtolz: kommt der Krieg, ſo
werden wir ſelbſt die Angreifer ſein.*) Unabläſſig, und in immer ſchärferem
Tone wiederholte der Czar ſeine Beſchwerden über die Umtriebe der pol-
niſchen Propaganda; mehrmals befahl er ſeinem Botſchafter Paris auf
längere Zeit zu verlaſſen. Seine Ungezogenheit wurde ſo widerwärtig,
daß Ludwig Philipp verzweifelnd ausrief: „ich werde mir meine Verbün-
deten anderswo ſuchen.“

Als der alte König dies erfuhr, ließ er ſeinem Schwiegerſohne ſagen:
„Ludwig Philipp hat zum Oefteren die Neigung gezeigt ſich den Conti-
nentalmächten zu nähern und in ihrem Sinne zu handeln. So lange
indeſſen der Kaiſer ſeine Antipathien gegen ihn nicht zu überwinden im
Stande iſt und ſich hierüber unverhohlen, ganz offen, ausſpricht, ſo lange
wird auch auf Ludwig Philipp wenig zu rechnen ſein und er allerdings an-
dere Alliirte ſuchen müſſen. Wollte der Kaiſer aber an ſeiner vorgefaßten
Meinung in etwas nachlaſſen, ſo wäre es auch ein großer Gewinn für
die conſervative Partei.“**) Die Mahnung fand taube Ohren. Der Czar
fuhr fort dem Bürgerkönige bei jeder Gelegenheit ſeine Mißachtung zu
zeigen, bis dieſer endlich einen tiefen perſönlichen Haß gegen den unver-
ſöhnlichen Peiniger faßte. Nach Nikolaus’ Meinung war Frankreich ſchlecht-

*) Rauch’s Bericht, 26. Dec. 1837.
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[62/0076] V. 2. Die Kriegsgefahr. Zwiſchen Frankreich und Rußland ward die Kluft mit den Jahren immer breiter, obgleich die erſtarkende altmoskowitiſche Partei am Peters- burger Hofe ein Bündniß der beiden Mächte gegen Deutſchland dringend wünſchte, und der Czar ſeinem preußiſchen Vertrauten Oberſt Rauch oft geſtand: außer mir ſelbſt ſind nur noch Neſſelrode und Orlow aufrichtige Freunde der deutſchen Allianz. Noch immer wollte Nikolaus ſich nicht ent- ſchließen dem franzöſiſchen Thronräuber zu verzeihen; er fand es ſchamlos, daß Ludwig Philipp nach der Geburt ſeines Thronerben, des Grafen von Paris, von der Fortdauer ſeiner Raſſe zu reden wagte, und konnte ſich den ruhigen Schritt der preußiſchen Politik, die in Wahrheit von dem alten Könige ſelbſt geleitet wurde, nur aus der Schwäche Ancillon’s — „Monſieur Vacillant’s“ — erklären. Halsſtarrig blieb er bei ſeiner alten Meinung, daß der Weltkrieg gegen den Staat der Revolution noch kommen müſſe. Die Lage Preußens malte er ſich in den dunkelſten Farben, weil er ſie alſo ſehen wollte und immer noch mit der Hoffnung ſpielte, ſeine formidable ruſſiſche Reſerve würde dereinſt die Deutſchen aus den Klauen der Jacobiner retten. Während des Kölner Biſchofsſtreites erkannte er ſogleich, daß Oeſterreich ſich nicht als ehrlicher Freund Preußens zeigte, und meinte: nun werde Frankreich den günſtigen Augenblick benutzen um den Krieg alsbald auf dem rechten Rheinufer zu eröffnen. Das Alles, ſo betheuerte er heilig, ſagte er nur „aus kindlicher Verehrung für den geliebten Vater“. Rauch aber erwiderte ſtolz: kommt der Krieg, ſo werden wir ſelbſt die Angreifer ſein. *) Unabläſſig, und in immer ſchärferem Tone wiederholte der Czar ſeine Beſchwerden über die Umtriebe der pol- niſchen Propaganda; mehrmals befahl er ſeinem Botſchafter Paris auf längere Zeit zu verlaſſen. Seine Ungezogenheit wurde ſo widerwärtig, daß Ludwig Philipp verzweifelnd ausrief: „ich werde mir meine Verbün- deten anderswo ſuchen.“ Als der alte König dies erfuhr, ließ er ſeinem Schwiegerſohne ſagen: „Ludwig Philipp hat zum Oefteren die Neigung gezeigt ſich den Conti- nentalmächten zu nähern und in ihrem Sinne zu handeln. So lange indeſſen der Kaiſer ſeine Antipathien gegen ihn nicht zu überwinden im Stande iſt und ſich hierüber unverhohlen, ganz offen, ausſpricht, ſo lange wird auch auf Ludwig Philipp wenig zu rechnen ſein und er allerdings an- dere Alliirte ſuchen müſſen. Wollte der Kaiſer aber an ſeiner vorgefaßten Meinung in etwas nachlaſſen, ſo wäre es auch ein großer Gewinn für die conſervative Partei.“ **) Die Mahnung fand taube Ohren. Der Czar fuhr fort dem Bürgerkönige bei jeder Gelegenheit ſeine Mißachtung zu zeigen, bis dieſer endlich einen tiefen perſönlichen Haß gegen den unver- ſöhnlichen Peiniger faßte. Nach Nikolaus’ Meinung war Frankreich ſchlecht- *) Rauch’s Bericht, 26. Dec. 1837. **) Rauch’s Bericht, 23. Juli 1837, nebſt Randbemerkung des Königs.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/76>, abgerufen am 23.11.2024.