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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 10. Vorboten der europäischen Revolution.
drücke, welche Radowitz in Paris empfing freilich nicht überein. Die
preußische Gesandtschaft, Heinrich Arnim so gut wie sein erster Rath Graf
Hatzfeldt, beobachtete mit Entsetzen, wie verblendet dies tugendstolze und
tugendlose Regiment alle Zeichen der Zeit mißachtete. Die lärmenden
Reformbankette der Radicalen bekundeten laut den Groll der unvertretenen
Volksklassen gegen das allein herrschende pays legal; der schmähliche
Fall des Ministers Teste, die Ermordung der Herzogin von Praslin und
so viele andere Skandäle in der vornehmen Welt bezeugten, wie tief diese
Herrschaft des Geldbeutels schon in ihren sittlichen Grundlagen zerfressen
war. In der Kammer sprach Alexis v. Tocqueville das Kassandra-Wort:
Sehen Sie denn nicht, daß die politischen Leidenschaften social geworden
sind? wir schlafen auf einem Vulkane! Angesichts solcher Anzeichen sagte
Guizot erhaben: Es giebt hier nur zwei wichtige Dinge: freie Vollmacht
von Seiten des Königs und die Stimmkugeln der Kammer. Ich habe
Beides, und wenn man sich draußen den Kugeln der Kammer nicht unter-
wirft, so habe ich Kartätschen um ihren Entscheidungen Achtung zu ver-
schaffen. Und im Tone vollendeter Selbstgewißheit gab er den Preußen
die gute Lehre: sie müßten, nachdem sie den Vereinigten Landtag ge-
schaffen, nunmehr als Gegengewicht das Präfektursystem einführen; ihre
collegialischen Regierungsbehörden seien zu langsam und zu unabhängig.*)
Ebenso verblendet zeigte sich der Bürgerkönig selbst. Eines Tages wies
er dem preußischen Gesandten wohlgefällig den Plan von Paris vor: wie
die Stadt von den neuen Forts so gänzlich eingeschlossen sei; beim Straßen-
kampfe müsse die Nationalgarde vorangehen; zeige sie sich unzuverlässig,
so würde sie von den nachfolgenden Linientruppen niedergeschossen. Arnim
dachte im Stillen: wenn diese ruchlos zuversichtliche Regierung dauert,
dann lebt kein Gott im Himmel mehr! Er verglich dies ideenlose, allein
auf die scheinbare Gesetzlichkeit des Jahres 1830 und auf die bewaffnete
Macht gestützte Regiment einer verdorbenen Uhr, deren Schlüssel verloren
gegangen sei.**)

Aehnlicher Befürchtungen konnte auch Radowitz sich nicht enthalten.
Indessen wurde am 18. Jan. 1848 von Frankreich, Preußen und Oester-
reich eine gemeinsame Note unterzeichnet, welche die Eidgenossen auffor-
derte die Sonderbundscantone zu räumen und deren Unabhängigkeit an-
zuerkennen -- was im Wesentlichen schon geschehen war. Sodann ver-
langten die Mächte, eine Veränderung der Bundesverfassung dürfe nur
durch einstimmigen Beschluß erfolgen. Was wollte diese Forderung jetzt
noch bedeuten? Der Radicalismus herrschte ja schon in der Tagsatzung,
und außer Neuenburg besaß nur noch der conservative Halbcanton Basel-
Stadt den Muth, der siegreichen Partei zu widersprechen. Das ver-

*) Hatzfeldt's Berichte an Canitz, 21. Juli 1847.
**) H. v. Arnim's Bericht, 13. Febr. 1848.

V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution.
drücke, welche Radowitz in Paris empfing freilich nicht überein. Die
preußiſche Geſandtſchaft, Heinrich Arnim ſo gut wie ſein erſter Rath Graf
Hatzfeldt, beobachtete mit Entſetzen, wie verblendet dies tugendſtolze und
tugendloſe Regiment alle Zeichen der Zeit mißachtete. Die lärmenden
Reformbankette der Radicalen bekundeten laut den Groll der unvertretenen
Volksklaſſen gegen das allein herrſchende pays légal; der ſchmähliche
Fall des Miniſters Teſte, die Ermordung der Herzogin von Praslin und
ſo viele andere Skandäle in der vornehmen Welt bezeugten, wie tief dieſe
Herrſchaft des Geldbeutels ſchon in ihren ſittlichen Grundlagen zerfreſſen
war. In der Kammer ſprach Alexis v. Tocqueville das Kaſſandra-Wort:
Sehen Sie denn nicht, daß die politiſchen Leidenſchaften ſocial geworden
ſind? wir ſchlafen auf einem Vulkane! Angeſichts ſolcher Anzeichen ſagte
Guizot erhaben: Es giebt hier nur zwei wichtige Dinge: freie Vollmacht
von Seiten des Königs und die Stimmkugeln der Kammer. Ich habe
Beides, und wenn man ſich draußen den Kugeln der Kammer nicht unter-
wirft, ſo habe ich Kartätſchen um ihren Entſcheidungen Achtung zu ver-
ſchaffen. Und im Tone vollendeter Selbſtgewißheit gab er den Preußen
die gute Lehre: ſie müßten, nachdem ſie den Vereinigten Landtag ge-
ſchaffen, nunmehr als Gegengewicht das Präfekturſyſtem einführen; ihre
collegialiſchen Regierungsbehörden ſeien zu langſam und zu unabhängig.*)
Ebenſo verblendet zeigte ſich der Bürgerkönig ſelbſt. Eines Tages wies
er dem preußiſchen Geſandten wohlgefällig den Plan von Paris vor: wie
die Stadt von den neuen Forts ſo gänzlich eingeſchloſſen ſei; beim Straßen-
kampfe müſſe die Nationalgarde vorangehen; zeige ſie ſich unzuverläſſig,
ſo würde ſie von den nachfolgenden Linientruppen niedergeſchoſſen. Arnim
dachte im Stillen: wenn dieſe ruchlos zuverſichtliche Regierung dauert,
dann lebt kein Gott im Himmel mehr! Er verglich dies ideenloſe, allein
auf die ſcheinbare Geſetzlichkeit des Jahres 1830 und auf die bewaffnete
Macht geſtützte Regiment einer verdorbenen Uhr, deren Schlüſſel verloren
gegangen ſei.**)

Aehnlicher Befürchtungen konnte auch Radowitz ſich nicht enthalten.
Indeſſen wurde am 18. Jan. 1848 von Frankreich, Preußen und Oeſter-
reich eine gemeinſame Note unterzeichnet, welche die Eidgenoſſen auffor-
derte die Sonderbundscantone zu räumen und deren Unabhängigkeit an-
zuerkennen — was im Weſentlichen ſchon geſchehen war. Sodann ver-
langten die Mächte, eine Veränderung der Bundesverfaſſung dürfe nur
durch einſtimmigen Beſchluß erfolgen. Was wollte dieſe Forderung jetzt
noch bedeuten? Der Radicalismus herrſchte ja ſchon in der Tagſatzung,
und außer Neuenburg beſaß nur noch der conſervative Halbcanton Baſel-
Stadt den Muth, der ſiegreichen Partei zu widerſprechen. Das ver-

*) Hatzfeldt’s Berichte an Canitz, 21. Juli 1847.
**) H. v. Arnim’s Bericht, 13. Febr. 1848.
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[740/0754] V. 10. Vorboten der europäiſchen Revolution. drücke, welche Radowitz in Paris empfing freilich nicht überein. Die preußiſche Geſandtſchaft, Heinrich Arnim ſo gut wie ſein erſter Rath Graf Hatzfeldt, beobachtete mit Entſetzen, wie verblendet dies tugendſtolze und tugendloſe Regiment alle Zeichen der Zeit mißachtete. Die lärmenden Reformbankette der Radicalen bekundeten laut den Groll der unvertretenen Volksklaſſen gegen das allein herrſchende pays légal; der ſchmähliche Fall des Miniſters Teſte, die Ermordung der Herzogin von Praslin und ſo viele andere Skandäle in der vornehmen Welt bezeugten, wie tief dieſe Herrſchaft des Geldbeutels ſchon in ihren ſittlichen Grundlagen zerfreſſen war. In der Kammer ſprach Alexis v. Tocqueville das Kaſſandra-Wort: Sehen Sie denn nicht, daß die politiſchen Leidenſchaften ſocial geworden ſind? wir ſchlafen auf einem Vulkane! Angeſichts ſolcher Anzeichen ſagte Guizot erhaben: Es giebt hier nur zwei wichtige Dinge: freie Vollmacht von Seiten des Königs und die Stimmkugeln der Kammer. Ich habe Beides, und wenn man ſich draußen den Kugeln der Kammer nicht unter- wirft, ſo habe ich Kartätſchen um ihren Entſcheidungen Achtung zu ver- ſchaffen. Und im Tone vollendeter Selbſtgewißheit gab er den Preußen die gute Lehre: ſie müßten, nachdem ſie den Vereinigten Landtag ge- ſchaffen, nunmehr als Gegengewicht das Präfekturſyſtem einführen; ihre collegialiſchen Regierungsbehörden ſeien zu langſam und zu unabhängig. *) Ebenſo verblendet zeigte ſich der Bürgerkönig ſelbſt. Eines Tages wies er dem preußiſchen Geſandten wohlgefällig den Plan von Paris vor: wie die Stadt von den neuen Forts ſo gänzlich eingeſchloſſen ſei; beim Straßen- kampfe müſſe die Nationalgarde vorangehen; zeige ſie ſich unzuverläſſig, ſo würde ſie von den nachfolgenden Linientruppen niedergeſchoſſen. Arnim dachte im Stillen: wenn dieſe ruchlos zuverſichtliche Regierung dauert, dann lebt kein Gott im Himmel mehr! Er verglich dies ideenloſe, allein auf die ſcheinbare Geſetzlichkeit des Jahres 1830 und auf die bewaffnete Macht geſtützte Regiment einer verdorbenen Uhr, deren Schlüſſel verloren gegangen ſei. **) Aehnlicher Befürchtungen konnte auch Radowitz ſich nicht enthalten. Indeſſen wurde am 18. Jan. 1848 von Frankreich, Preußen und Oeſter- reich eine gemeinſame Note unterzeichnet, welche die Eidgenoſſen auffor- derte die Sonderbundscantone zu räumen und deren Unabhängigkeit an- zuerkennen — was im Weſentlichen ſchon geſchehen war. Sodann ver- langten die Mächte, eine Veränderung der Bundesverfaſſung dürfe nur durch einſtimmigen Beſchluß erfolgen. Was wollte dieſe Forderung jetzt noch bedeuten? Der Radicalismus herrſchte ja ſchon in der Tagſatzung, und außer Neuenburg beſaß nur noch der conſervative Halbcanton Baſel- Stadt den Muth, der ſiegreichen Partei zu widerſprechen. Das ver- *) Hatzfeldt’s Berichte an Canitz, 21. Juli 1847. **) H. v. Arnim’s Bericht, 13. Febr. 1848.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/754>, abgerufen am 24.04.2024.