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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 9. Der Niedergang des Deutschen Bundes.
Cabinet ein ängstliches Mißtrauen zeigten. Unterdessen begann auch die
ultramontane Partei ihre Netze im Großherzogthum auszuwerfen. Du
Thil hielt seine Augen offen; er freute sich aufrichtig, als ihm eines Tags
aus Schaffhausen ohne Namen eine Flugschrift zugesendet wurde: "die Ope-
rationen der ultramontanen und absolutistischen Partei in Süddeutschland"
-- ein Büchlein, das offenbar aus den Kreisen der liberalen Priester-
schaft hervorgegangen war und mit gründlicher Sachkenntniß nachwies,
wie tief sich die clericale Partei schon an den Höfen des Südens einge-
nistet hatte. In Hessen war der Kanzler Linde ihre beste Stütze. Der
hatte, aus dem kurkölnischen Herzogthum Westphalen gebürtig, sein neues
Vaterland Preußen bald unmuthig verlassen und nach einer kurzen er-
folgreichen juristischen Lehrthätigkeit das Kanzleramt der Universität Gießen
sowie einige andere hohe Staatsämter erlangt. Er gründete die Gießener
katholische Facultät, die mit Freiburg und Tübingen wetteifernd sich um
die wissenschaftliche Bildung des südwestdeutschen Clerus große Verdienste
erwarb. Den strengen Ultramontanen blieb er stets verdächtig, weil er
die Verehrung für seinen alten Lehrer Hermes nie ganz verleugnete; und
doch wirkte er mit ihnen zusammen, weil er sie als unversöhnliche Wider-
sacher Preußens schätzte. Jeder starke Charakter zieht an und stößt ab,
das gilt von den Staaten wie von dem Einzelnen. Wie der preußische
Staat von jeher große Talente aus dem übrigen Deutschland an sich ge-
zogen und mit seinem Geiste erfüllt hatte, so mußte er jetzt auch erleben,
daß die clericale Partei des Südens ihre wildesten Preußenfeinde alle-
sammt aus Preußen selbst erhielt: Görres, Jarcke, Phillips, Linde. Als
Erzherzog Max von Oesterreich-Este, der reiche, im Stillen mächtige Gönner
der Jesuiten, den Südwesten bereiste, da war in Hessen sein erster Gang
zu Linde, und du Thil meinte bitter: "er wußte, an wen er sich zu wenden
hatte." Auch in Biebrich, wo Jarcke schon vorgearbeitet hatte, schaarte sich
um den Freiherrn v. Loe eine clericale Hofpartei, die dem sogenannten
"nassauischen Rattenkönige", der Vetterschaft der mächtigen Familie Dun-
gern, die Herrschaft zu entreißen trachtete.

Zwischen so mannichfachen höfischen Parteien wußte du Thil sich
tapfer zu behaupten; er besaß das volle Vertrauen des Großherzogs und
vertheidigte nach außen hin die Würde seines Fürstenhauses noch immer
mit der alten Eifersucht. Welche Freude, als er nach vieljährigen Kämpfen
endlich durchgesetzt hatte, daß Hessen-Homburg nicht einen Antheil an der
Bundestagsstimme der Darmstädtischen Vettern erhielt, sondern mit einem
Platze unter den Kleinen der sechzehnten Curie vorlieb nehmen mußte;
sonst wäre ja die großherzogliche Virilstimme zu einer Curiatstimme "de-
gradirt" worden! Als den gefährlichsten Mann der liberalen Opposition
fürchtete man den alten Präsidenten Jaup, der einst bei der Entstehung
der Verfassung mitgeholfen hatte und jetzt schon längst als verdächtig
zur Ruhe gesetzt war. Er galt bei Hofe, schon wegen der cynischen Ein-

V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes.
Cabinet ein ängſtliches Mißtrauen zeigten. Unterdeſſen begann auch die
ultramontane Partei ihre Netze im Großherzogthum auszuwerfen. Du
Thil hielt ſeine Augen offen; er freute ſich aufrichtig, als ihm eines Tags
aus Schaffhauſen ohne Namen eine Flugſchrift zugeſendet wurde: „die Ope-
rationen der ultramontanen und abſolutiſtiſchen Partei in Süddeutſchland“
— ein Büchlein, das offenbar aus den Kreiſen der liberalen Prieſter-
ſchaft hervorgegangen war und mit gründlicher Sachkenntniß nachwies,
wie tief ſich die clericale Partei ſchon an den Höfen des Südens einge-
niſtet hatte. In Heſſen war der Kanzler Linde ihre beſte Stütze. Der
hatte, aus dem kurkölniſchen Herzogthum Weſtphalen gebürtig, ſein neues
Vaterland Preußen bald unmuthig verlaſſen und nach einer kurzen er-
folgreichen juriſtiſchen Lehrthätigkeit das Kanzleramt der Univerſität Gießen
ſowie einige andere hohe Staatsämter erlangt. Er gründete die Gießener
katholiſche Facultät, die mit Freiburg und Tübingen wetteifernd ſich um
die wiſſenſchaftliche Bildung des ſüdweſtdeutſchen Clerus große Verdienſte
erwarb. Den ſtrengen Ultramontanen blieb er ſtets verdächtig, weil er
die Verehrung für ſeinen alten Lehrer Hermes nie ganz verleugnete; und
doch wirkte er mit ihnen zuſammen, weil er ſie als unverſöhnliche Wider-
ſacher Preußens ſchätzte. Jeder ſtarke Charakter zieht an und ſtößt ab,
das gilt von den Staaten wie von dem Einzelnen. Wie der preußiſche
Staat von jeher große Talente aus dem übrigen Deutſchland an ſich ge-
zogen und mit ſeinem Geiſte erfüllt hatte, ſo mußte er jetzt auch erleben,
daß die clericale Partei des Südens ihre wildeſten Preußenfeinde alle-
ſammt aus Preußen ſelbſt erhielt: Görres, Jarcke, Phillips, Linde. Als
Erzherzog Max von Oeſterreich-Eſte, der reiche, im Stillen mächtige Gönner
der Jeſuiten, den Südweſten bereiſte, da war in Heſſen ſein erſter Gang
zu Linde, und du Thil meinte bitter: „er wußte, an wen er ſich zu wenden
hatte.“ Auch in Biebrich, wo Jarcke ſchon vorgearbeitet hatte, ſchaarte ſich
um den Freiherrn v. Loë eine clericale Hofpartei, die dem ſogenannten
„naſſauiſchen Rattenkönige“, der Vetterſchaft der mächtigen Familie Dun-
gern, die Herrſchaft zu entreißen trachtete.

Zwiſchen ſo mannichfachen höfiſchen Parteien wußte du Thil ſich
tapfer zu behaupten; er beſaß das volle Vertrauen des Großherzogs und
vertheidigte nach außen hin die Würde ſeines Fürſtenhauſes noch immer
mit der alten Eiferſucht. Welche Freude, als er nach vieljährigen Kämpfen
endlich durchgeſetzt hatte, daß Heſſen-Homburg nicht einen Antheil an der
Bundestagsſtimme der Darmſtädtiſchen Vettern erhielt, ſondern mit einem
Platze unter den Kleinen der ſechzehnten Curie vorlieb nehmen mußte;
ſonſt wäre ja die großherzogliche Virilſtimme zu einer Curiatſtimme „de-
gradirt“ worden! Als den gefährlichſten Mann der liberalen Oppoſition
fürchtete man den alten Präſidenten Jaup, der einſt bei der Entſtehung
der Verfaſſung mitgeholfen hatte und jetzt ſchon längſt als verdächtig
zur Ruhe geſetzt war. Er galt bei Hofe, ſchon wegen der cyniſchen Ein-

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[682/0696] V. 9. Der Niedergang des Deutſchen Bundes. Cabinet ein ängſtliches Mißtrauen zeigten. Unterdeſſen begann auch die ultramontane Partei ihre Netze im Großherzogthum auszuwerfen. Du Thil hielt ſeine Augen offen; er freute ſich aufrichtig, als ihm eines Tags aus Schaffhauſen ohne Namen eine Flugſchrift zugeſendet wurde: „die Ope- rationen der ultramontanen und abſolutiſtiſchen Partei in Süddeutſchland“ — ein Büchlein, das offenbar aus den Kreiſen der liberalen Prieſter- ſchaft hervorgegangen war und mit gründlicher Sachkenntniß nachwies, wie tief ſich die clericale Partei ſchon an den Höfen des Südens einge- niſtet hatte. In Heſſen war der Kanzler Linde ihre beſte Stütze. Der hatte, aus dem kurkölniſchen Herzogthum Weſtphalen gebürtig, ſein neues Vaterland Preußen bald unmuthig verlaſſen und nach einer kurzen er- folgreichen juriſtiſchen Lehrthätigkeit das Kanzleramt der Univerſität Gießen ſowie einige andere hohe Staatsämter erlangt. Er gründete die Gießener katholiſche Facultät, die mit Freiburg und Tübingen wetteifernd ſich um die wiſſenſchaftliche Bildung des ſüdweſtdeutſchen Clerus große Verdienſte erwarb. Den ſtrengen Ultramontanen blieb er ſtets verdächtig, weil er die Verehrung für ſeinen alten Lehrer Hermes nie ganz verleugnete; und doch wirkte er mit ihnen zuſammen, weil er ſie als unverſöhnliche Wider- ſacher Preußens ſchätzte. Jeder ſtarke Charakter zieht an und ſtößt ab, das gilt von den Staaten wie von dem Einzelnen. Wie der preußiſche Staat von jeher große Talente aus dem übrigen Deutſchland an ſich ge- zogen und mit ſeinem Geiſte erfüllt hatte, ſo mußte er jetzt auch erleben, daß die clericale Partei des Südens ihre wildeſten Preußenfeinde alle- ſammt aus Preußen ſelbſt erhielt: Görres, Jarcke, Phillips, Linde. Als Erzherzog Max von Oeſterreich-Eſte, der reiche, im Stillen mächtige Gönner der Jeſuiten, den Südweſten bereiſte, da war in Heſſen ſein erſter Gang zu Linde, und du Thil meinte bitter: „er wußte, an wen er ſich zu wenden hatte.“ Auch in Biebrich, wo Jarcke ſchon vorgearbeitet hatte, ſchaarte ſich um den Freiherrn v. Loë eine clericale Hofpartei, die dem ſogenannten „naſſauiſchen Rattenkönige“, der Vetterſchaft der mächtigen Familie Dun- gern, die Herrſchaft zu entreißen trachtete. Zwiſchen ſo mannichfachen höfiſchen Parteien wußte du Thil ſich tapfer zu behaupten; er beſaß das volle Vertrauen des Großherzogs und vertheidigte nach außen hin die Würde ſeines Fürſtenhauſes noch immer mit der alten Eiferſucht. Welche Freude, als er nach vieljährigen Kämpfen endlich durchgeſetzt hatte, daß Heſſen-Homburg nicht einen Antheil an der Bundestagsſtimme der Darmſtädtiſchen Vettern erhielt, ſondern mit einem Platze unter den Kleinen der ſechzehnten Curie vorlieb nehmen mußte; ſonſt wäre ja die großherzogliche Virilſtimme zu einer Curiatſtimme „de- gradirt“ worden! Als den gefährlichſten Mann der liberalen Oppoſition fürchtete man den alten Präſidenten Jaup, der einſt bei der Entſtehung der Verfaſſung mitgeholfen hatte und jetzt ſchon längſt als verdächtig zur Ruhe geſetzt war. Er galt bei Hofe, ſchon wegen der cyniſchen Ein-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 682. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/696>, abgerufen am 22.11.2024.