Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.Lola's Flucht. Der alte Kurfürst. geschädigt durch die fortschreitende Entartung des hessischen Kurhauses.Wie viele Diplomaten ganz verschiedenen Schlages hatten nun schon den preußischen Hof in Cassel vertreten: erst Hänlein, der schwerfällige Regens- burger Reichsjurist, dann dessen lebenslustiger Sohn, darauf der sarkastische Canitz, der über seine geliebte hessische Heimath doch so mild wie möglich urtheilte, dann Stach v. Goltzheim, ein beschränkter Kopf, jetzt endlich der streng clericale westphälische Graf Galen, der einst wegen des Kölnischen Bischofsstreites aus dem diplomatischen Dienste ausgeschieden, unter dem neuen Könige jedoch wieder eingetreten war. In Einem aber stimmten alle preußischen Gesandtschaftsberichte vollständig überein: in der Entrüstung über dies gewissenlose Fürstengeschlecht, das am Berliner Hofe doch stets als treuer Bundesgenosse betrachtet wurde. Der Kurprinz-Mitregent schien selbst zu ahnen, wie die Nachwelt dereinst über ihn richten würde; er ließ alle wichtigen Akten über sein Regiment so sorgfältig beseitigen, daß sich heute im Mar- burger Archiv schlechterdings nichts über diese Zeiten vorfindet. Mit ge- waltsamer Selbstüberwindung bewahrte sich das hessische Volk seine dyna- stische Treue; zum höchsten Geburtstage sang ein patriotischer Dichter: "ein Lebehoch erschall' im Jubeltone dem theuren Vater und dem theuren Sohne!" Der theuere Sohn war aber dermaßen verhaßt, daß Stach v. Goltzheim tief betrübt gestehen mußte: "ich kenne keinen einzigen aufrichtigen Anhänger und Verehrer des Kurprinzen."*) Das Volk begann schon sich nach dem Vater zurückzusehnen, der immer noch grollend außer Landes weilte. Als die unglückliche Kurfürstin Auguste starb und der alte Herr nun- *) Stach's Bericht, 4. Nov. 1841. **) Stach's Bericht, 21. Aug. 1841.
Lola’s Flucht. Der alte Kurfürſt. geſchädigt durch die fortſchreitende Entartung des heſſiſchen Kurhauſes.Wie viele Diplomaten ganz verſchiedenen Schlages hatten nun ſchon den preußiſchen Hof in Caſſel vertreten: erſt Hänlein, der ſchwerfällige Regens- burger Reichsjuriſt, dann deſſen lebensluſtiger Sohn, darauf der ſarkaſtiſche Canitz, der über ſeine geliebte heſſiſche Heimath doch ſo mild wie möglich urtheilte, dann Stach v. Goltzheim, ein beſchränkter Kopf, jetzt endlich der ſtreng clericale weſtphäliſche Graf Galen, der einſt wegen des Kölniſchen Biſchofsſtreites aus dem diplomatiſchen Dienſte ausgeſchieden, unter dem neuen Könige jedoch wieder eingetreten war. In Einem aber ſtimmten alle preußiſchen Geſandtſchaftsberichte vollſtändig überein: in der Entrüſtung über dies gewiſſenloſe Fürſtengeſchlecht, das am Berliner Hofe doch ſtets als treuer Bundesgenoſſe betrachtet wurde. Der Kurprinz-Mitregent ſchien ſelbſt zu ahnen, wie die Nachwelt dereinſt über ihn richten würde; er ließ alle wichtigen Akten über ſein Regiment ſo ſorgfältig beſeitigen, daß ſich heute im Mar- burger Archiv ſchlechterdings nichts über dieſe Zeiten vorfindet. Mit ge- waltſamer Selbſtüberwindung bewahrte ſich das heſſiſche Volk ſeine dyna- ſtiſche Treue; zum höchſten Geburtstage ſang ein patriotiſcher Dichter: „ein Lebehoch erſchall’ im Jubeltone dem theuren Vater und dem theuren Sohne!“ Der theuere Sohn war aber dermaßen verhaßt, daß Stach v. Goltzheim tief betrübt geſtehen mußte: „ich kenne keinen einzigen aufrichtigen Anhänger und Verehrer des Kurprinzen.“*) Das Volk begann ſchon ſich nach dem Vater zurückzuſehnen, der immer noch grollend außer Landes weilte. Als die unglückliche Kurfürſtin Auguſte ſtarb und der alte Herr nun- *) Stach’s Bericht, 4. Nov. 1841. **) Stach’s Bericht, 21. Aug. 1841.
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Lola’s Flucht. Der alte Kurfürſt.
geſchädigt durch die fortſchreitende Entartung des heſſiſchen Kurhauſes.
Wie viele Diplomaten ganz verſchiedenen Schlages hatten nun ſchon den
preußiſchen Hof in Caſſel vertreten: erſt Hänlein, der ſchwerfällige Regens-
burger Reichsjuriſt, dann deſſen lebensluſtiger Sohn, darauf der ſarkaſtiſche
Canitz, der über ſeine geliebte heſſiſche Heimath doch ſo mild wie möglich
urtheilte, dann Stach v. Goltzheim, ein beſchränkter Kopf, jetzt endlich der
ſtreng clericale weſtphäliſche Graf Galen, der einſt wegen des Kölniſchen
Biſchofsſtreites aus dem diplomatiſchen Dienſte ausgeſchieden, unter dem
neuen Könige jedoch wieder eingetreten war. In Einem aber ſtimmten alle
preußiſchen Geſandtſchaftsberichte vollſtändig überein: in der Entrüſtung über
dies gewiſſenloſe Fürſtengeſchlecht, das am Berliner Hofe doch ſtets als treuer
Bundesgenoſſe betrachtet wurde. Der Kurprinz-Mitregent ſchien ſelbſt zu
ahnen, wie die Nachwelt dereinſt über ihn richten würde; er ließ alle wichtigen
Akten über ſein Regiment ſo ſorgfältig beſeitigen, daß ſich heute im Mar-
burger Archiv ſchlechterdings nichts über dieſe Zeiten vorfindet. Mit ge-
waltſamer Selbſtüberwindung bewahrte ſich das heſſiſche Volk ſeine dyna-
ſtiſche Treue; zum höchſten Geburtstage ſang ein patriotiſcher Dichter:
„ein Lebehoch erſchall’ im Jubeltone dem theuren Vater und dem theuren
Sohne!“ Der theuere Sohn war aber dermaßen verhaßt, daß Stach v.
Goltzheim tief betrübt geſtehen mußte: „ich kenne keinen einzigen aufrichtigen
Anhänger und Verehrer des Kurprinzen.“ *) Das Volk begann ſchon ſich
nach dem Vater zurückzuſehnen, der immer noch grollend außer Landes
weilte.
Als die unglückliche Kurfürſtin Auguſte ſtarb und der alte Herr nun-
mehr ſofort ſeine Reichenbach heirathete (1841), da bat ihn der Caſſeler
Magiſtrat durch eine ſtreng geheim gehaltene Adreſſe, er möge mit ſeiner
ehelichen Gemahlin in ſeine Hauptſtadt zurückkehren. **) Nicht lange darauf
ſtarb auch die Gräfin Reichenbach, und nun ſchloß der Kurfürſt eine dritte
Ehe mit einer Tochter des Landes, einer Freiin von Berlepſch, die zur
Gräfin Bergen erhoben wurde. Da er mit dieſer achtungswerthen liebens-
würdigen Frau fortan ganz ehrbar zu Frankfurt in ſeiner ſchönen Villa
am Mainufer lebte und nur noch zuweilen einmal zu der nahen Homburger
Spielbank hinüberfuhr, ſo waren die Kurheſſen jetzt bereit, ihren gebeſſerten
Landesvater mit offenen Armen aufzunehmen. Der Sohn aber zitterte
vor der Rückkehr des Vaters, er bat die beiden Großmächte flehentlich
um Schutz und reiſte einmal ſelbſt nach Schleſien zu König Friedrich
Wilhelm um ſich der preußiſchen Hilfe zu verſichern. Unnöthige Angſt.
Der alte Kurfürſt war mit nichten gemeint ſein Stilleben aufzugeben;
die vielen Liebesbeweiſe aber, die ihm jetzt aus der Heimath zukamen,
thaten ihm wohl, in ſeinen letzten Jahren ſöhnte er ſich mit den Land-
*) Stach’s Bericht, 4. Nov. 1841.
**) Stach’s Bericht, 21. Aug. 1841.
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