Zurückweisung des ungenügenden königlichen Gnadengeschenks. Der Neiden- burger Kreistag faßte sogar den Beschluß, die Abgeordneten sollten sich für incompetent erklären, so lange ihnen nicht ihr Recht würde, und im Kreise Strasburg begann der zungenfertige junge Gutsbesitzer v. Hennig seine liberale Laufbahn mit einem ähnlichen Versuche.*)
Das Lärmzeichen für diese Unversöhnlichen gab Heinrich Simon mit seiner Flugschrift: Annehmen oder Ablehnen? Er hatte bei dem Kampfe gegen die Disciplinargesetze Muth und Festigkeit, aber auch viel spitzfindige Advocatenkünste gezeigt; die Juristen schätzten seine brauchbaren, mehr durch Fülle als durch Vergeistigung des Stoffes ausgezeichneten Hand- bücher über preußisches Staatsrecht. Als Neffe des alten um die rhei- nische Rechtspflege hochverdienten Gerichtsraths Simon konnte er bei den Liberalen des Westens von vornherein freundliches Gehör erwarten; und da ihn die Juden, trotz der Taufe, noch immer zu ihren Leuten rechneten, so erfreute er sich in allen Zeitungen einer beflissenen Verherrlichung, welche selbst seinem hohen Selbstgefühle genügte. Doch muß auch in seiner Persönlichkeit ein eigenthümlicher Reiz gelegen haben, der sich aus seinen trockenen juristischen Schriften nicht errathen läßt. Zwei feindliche Dichterinnen, Ida Hahn-Hahn die geliebte und Fanny Lewald die ver- schmähte, beteten ihn mit gleicher Inbrunst an, und selbst seinem Gegner Radowitz erschien er bei flüchtiger Reisebekanntschaft sofort als ein un- gewöhnlicher Mann. Seine neueste Schrift verdiente freilich ihren Eintags- ruhm in keiner Weise, sie brachte nichts vor als das leere Entweder -- Oder des Radicalismus. "Wir baten dich um Brot und du giebst uns einen Stein" -- so begann er gleich, und entwickelte dann die längst überwundene privatrechtliche Theorie, wonach die ständische Verfassung ein Vertrag zwischen Krone und Volk sein sollte. Er behauptete, was einem gewiegten Juristen doch kaum zu verzeihen war: das Patent "nehme dem Volke seine wenigen staatlichen Rechte"; er lobte sogar das suspen- sive Veto Norwegens, da "ein Einzelner" doch nicht mehr gelten dürfe als der Wille der Millionen, und mahnte den König, er möge brechen mit der Ansicht, daß ihm die Krone von Gott gegeben sei, und sich viel- mehr halten an den Wahlspruch: Volkes Stimme ist Gottes Stimme!
Friedrich Wilhelm war empört, er verlangte im ersten Zorne Absetzung der Censoren, die das "Verbrechen" begangen hätten "solch Buch nicht confisciren zu lassen" -- bis sich dann herausstellte, daß die Schrift als censurfreies Zwanzigbogenbuch in Leipzig erschienen war.**) Die grobe Handgreiflichkeit der Simon'schen Vertragstheorie mußte viele Halbgebil- dete überzeugen. Zu weiterer Belehrung ließ dann Simon's Verleger noch eine "Parallele der preußischen Verfassung mit den Verfassungen
*) Berichte der Reg.-Präsidenten Wallach, 29. April, und v. Nordenflycht, 7. April 1847 an Bodelschwingh.
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 15. März 1847.
V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Zurückweiſung des ungenügenden königlichen Gnadengeſchenks. Der Neiden- burger Kreistag faßte ſogar den Beſchluß, die Abgeordneten ſollten ſich für incompetent erklären, ſo lange ihnen nicht ihr Recht würde, und im Kreiſe Strasburg begann der zungenfertige junge Gutsbeſitzer v. Hennig ſeine liberale Laufbahn mit einem ähnlichen Verſuche.*)
Das Lärmzeichen für dieſe Unverſöhnlichen gab Heinrich Simon mit ſeiner Flugſchrift: Annehmen oder Ablehnen? Er hatte bei dem Kampfe gegen die Disciplinargeſetze Muth und Feſtigkeit, aber auch viel ſpitzfindige Advocatenkünſte gezeigt; die Juriſten ſchätzten ſeine brauchbaren, mehr durch Fülle als durch Vergeiſtigung des Stoffes ausgezeichneten Hand- bücher über preußiſches Staatsrecht. Als Neffe des alten um die rhei- niſche Rechtspflege hochverdienten Gerichtsraths Simon konnte er bei den Liberalen des Weſtens von vornherein freundliches Gehör erwarten; und da ihn die Juden, trotz der Taufe, noch immer zu ihren Leuten rechneten, ſo erfreute er ſich in allen Zeitungen einer befliſſenen Verherrlichung, welche ſelbſt ſeinem hohen Selbſtgefühle genügte. Doch muß auch in ſeiner Perſönlichkeit ein eigenthümlicher Reiz gelegen haben, der ſich aus ſeinen trockenen juriſtiſchen Schriften nicht errathen läßt. Zwei feindliche Dichterinnen, Ida Hahn-Hahn die geliebte und Fanny Lewald die ver- ſchmähte, beteten ihn mit gleicher Inbrunſt an, und ſelbſt ſeinem Gegner Radowitz erſchien er bei flüchtiger Reiſebekanntſchaft ſofort als ein un- gewöhnlicher Mann. Seine neueſte Schrift verdiente freilich ihren Eintags- ruhm in keiner Weiſe, ſie brachte nichts vor als das leere Entweder — Oder des Radicalismus. „Wir baten dich um Brot und du giebſt uns einen Stein“ — ſo begann er gleich, und entwickelte dann die längſt überwundene privatrechtliche Theorie, wonach die ſtändiſche Verfaſſung ein Vertrag zwiſchen Krone und Volk ſein ſollte. Er behauptete, was einem gewiegten Juriſten doch kaum zu verzeihen war: das Patent „nehme dem Volke ſeine wenigen ſtaatlichen Rechte“; er lobte ſogar das ſuspen- ſive Veto Norwegens, da „ein Einzelner“ doch nicht mehr gelten dürfe als der Wille der Millionen, und mahnte den König, er möge brechen mit der Anſicht, daß ihm die Krone von Gott gegeben ſei, und ſich viel- mehr halten an den Wahlſpruch: Volkes Stimme iſt Gottes Stimme!
Friedrich Wilhelm war empört, er verlangte im erſten Zorne Abſetzung der Cenſoren, die das „Verbrechen“ begangen hätten „ſolch Buch nicht confisciren zu laſſen“ — bis ſich dann herausſtellte, daß die Schrift als cenſurfreies Zwanzigbogenbuch in Leipzig erſchienen war.**) Die grobe Handgreiflichkeit der Simon’ſchen Vertragstheorie mußte viele Halbgebil- dete überzeugen. Zu weiterer Belehrung ließ dann Simon’s Verleger noch eine „Parallele der preußiſchen Verfaſſung mit den Verfaſſungen
*) Berichte der Reg.-Präſidenten Wallach, 29. April, und v. Nordenflycht, 7. April 1847 an Bodelſchwingh.
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 15. März 1847.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0626"n="612"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">V.</hi> 8. Der Vereinigte Landtag.</fw><lb/>
Zurückweiſung des ungenügenden königlichen Gnadengeſchenks. Der Neiden-<lb/>
burger Kreistag faßte ſogar den Beſchluß, die Abgeordneten ſollten ſich für<lb/>
incompetent erklären, ſo lange ihnen nicht ihr Recht würde, und im Kreiſe<lb/>
Strasburg begann der zungenfertige junge Gutsbeſitzer v. Hennig ſeine<lb/>
liberale Laufbahn mit einem ähnlichen Verſuche.<noteplace="foot"n="*)">Berichte der Reg.-Präſidenten Wallach, 29. April, und v. Nordenflycht, 7. April<lb/>
1847 an Bodelſchwingh.</note></p><lb/><p>Das Lärmzeichen für dieſe Unverſöhnlichen gab Heinrich Simon mit<lb/>ſeiner Flugſchrift: Annehmen oder Ablehnen? Er hatte bei dem Kampfe<lb/>
gegen die Disciplinargeſetze Muth und Feſtigkeit, aber auch viel ſpitzfindige<lb/>
Advocatenkünſte gezeigt; die Juriſten ſchätzten ſeine brauchbaren, mehr<lb/>
durch Fülle als durch Vergeiſtigung des Stoffes ausgezeichneten Hand-<lb/>
bücher über preußiſches Staatsrecht. Als Neffe des alten um die rhei-<lb/>
niſche Rechtspflege hochverdienten Gerichtsraths Simon konnte er bei den<lb/>
Liberalen des Weſtens von vornherein freundliches Gehör erwarten; und<lb/>
da ihn die Juden, trotz der Taufe, noch immer zu ihren Leuten rechneten,<lb/>ſo erfreute er ſich in allen Zeitungen einer befliſſenen Verherrlichung,<lb/>
welche ſelbſt ſeinem hohen Selbſtgefühle genügte. Doch muß auch in<lb/>ſeiner Perſönlichkeit ein eigenthümlicher Reiz gelegen haben, der ſich aus<lb/>ſeinen trockenen juriſtiſchen Schriften nicht errathen läßt. Zwei feindliche<lb/>
Dichterinnen, Ida Hahn-Hahn die geliebte und Fanny Lewald die ver-<lb/>ſchmähte, beteten ihn mit gleicher Inbrunſt an, und ſelbſt ſeinem Gegner<lb/>
Radowitz erſchien er bei flüchtiger Reiſebekanntſchaft ſofort als ein un-<lb/>
gewöhnlicher Mann. Seine neueſte Schrift verdiente freilich ihren Eintags-<lb/>
ruhm in keiner Weiſe, ſie brachte nichts vor als das leere Entweder —<lb/>
Oder des Radicalismus. „Wir baten dich um Brot und du giebſt uns<lb/>
einen Stein“—ſo begann er gleich, und entwickelte dann die längſt<lb/>
überwundene privatrechtliche Theorie, wonach die ſtändiſche Verfaſſung<lb/>
ein Vertrag zwiſchen Krone und Volk ſein ſollte. Er behauptete, was<lb/>
einem gewiegten Juriſten doch kaum zu verzeihen war: das Patent „nehme<lb/>
dem Volke ſeine wenigen ſtaatlichen Rechte“; er lobte ſogar das ſuspen-<lb/>ſive Veto Norwegens, da „ein Einzelner“ doch nicht mehr gelten dürfe<lb/>
als der Wille der Millionen, und mahnte den König, er möge brechen<lb/>
mit der Anſicht, daß ihm die Krone von Gott gegeben ſei, und ſich viel-<lb/>
mehr halten an den Wahlſpruch: Volkes Stimme iſt Gottes Stimme!</p><lb/><p>Friedrich Wilhelm war empört, er verlangte im erſten Zorne Abſetzung<lb/>
der Cenſoren, die das „Verbrechen“ begangen hätten „ſolch Buch nicht<lb/>
confisciren zu laſſen“— bis ſich dann herausſtellte, daß die Schrift als<lb/>
cenſurfreies Zwanzigbogenbuch in Leipzig erſchienen war.<noteplace="foot"n="**)">König Friedrich Wilhelm an Thile, 15. März 1847.</note> Die grobe<lb/>
Handgreiflichkeit der Simon’ſchen Vertragstheorie mußte viele Halbgebil-<lb/>
dete überzeugen. Zu weiterer Belehrung ließ dann Simon’s Verleger<lb/>
noch eine „Parallele der preußiſchen Verfaſſung mit den Verfaſſungen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[612/0626]
V. 8. Der Vereinigte Landtag.
Zurückweiſung des ungenügenden königlichen Gnadengeſchenks. Der Neiden-
burger Kreistag faßte ſogar den Beſchluß, die Abgeordneten ſollten ſich für
incompetent erklären, ſo lange ihnen nicht ihr Recht würde, und im Kreiſe
Strasburg begann der zungenfertige junge Gutsbeſitzer v. Hennig ſeine
liberale Laufbahn mit einem ähnlichen Verſuche. *)
Das Lärmzeichen für dieſe Unverſöhnlichen gab Heinrich Simon mit
ſeiner Flugſchrift: Annehmen oder Ablehnen? Er hatte bei dem Kampfe
gegen die Disciplinargeſetze Muth und Feſtigkeit, aber auch viel ſpitzfindige
Advocatenkünſte gezeigt; die Juriſten ſchätzten ſeine brauchbaren, mehr
durch Fülle als durch Vergeiſtigung des Stoffes ausgezeichneten Hand-
bücher über preußiſches Staatsrecht. Als Neffe des alten um die rhei-
niſche Rechtspflege hochverdienten Gerichtsraths Simon konnte er bei den
Liberalen des Weſtens von vornherein freundliches Gehör erwarten; und
da ihn die Juden, trotz der Taufe, noch immer zu ihren Leuten rechneten,
ſo erfreute er ſich in allen Zeitungen einer befliſſenen Verherrlichung,
welche ſelbſt ſeinem hohen Selbſtgefühle genügte. Doch muß auch in
ſeiner Perſönlichkeit ein eigenthümlicher Reiz gelegen haben, der ſich aus
ſeinen trockenen juriſtiſchen Schriften nicht errathen läßt. Zwei feindliche
Dichterinnen, Ida Hahn-Hahn die geliebte und Fanny Lewald die ver-
ſchmähte, beteten ihn mit gleicher Inbrunſt an, und ſelbſt ſeinem Gegner
Radowitz erſchien er bei flüchtiger Reiſebekanntſchaft ſofort als ein un-
gewöhnlicher Mann. Seine neueſte Schrift verdiente freilich ihren Eintags-
ruhm in keiner Weiſe, ſie brachte nichts vor als das leere Entweder —
Oder des Radicalismus. „Wir baten dich um Brot und du giebſt uns
einen Stein“ — ſo begann er gleich, und entwickelte dann die längſt
überwundene privatrechtliche Theorie, wonach die ſtändiſche Verfaſſung
ein Vertrag zwiſchen Krone und Volk ſein ſollte. Er behauptete, was
einem gewiegten Juriſten doch kaum zu verzeihen war: das Patent „nehme
dem Volke ſeine wenigen ſtaatlichen Rechte“; er lobte ſogar das ſuspen-
ſive Veto Norwegens, da „ein Einzelner“ doch nicht mehr gelten dürfe
als der Wille der Millionen, und mahnte den König, er möge brechen
mit der Anſicht, daß ihm die Krone von Gott gegeben ſei, und ſich viel-
mehr halten an den Wahlſpruch: Volkes Stimme iſt Gottes Stimme!
Friedrich Wilhelm war empört, er verlangte im erſten Zorne Abſetzung
der Cenſoren, die das „Verbrechen“ begangen hätten „ſolch Buch nicht
confisciren zu laſſen“ — bis ſich dann herausſtellte, daß die Schrift als
cenſurfreies Zwanzigbogenbuch in Leipzig erſchienen war. **) Die grobe
Handgreiflichkeit der Simon’ſchen Vertragstheorie mußte viele Halbgebil-
dete überzeugen. Zu weiterer Belehrung ließ dann Simon’s Verleger
noch eine „Parallele der preußiſchen Verfaſſung mit den Verfaſſungen
*) Berichte der Reg.-Präſidenten Wallach, 29. April, und v. Nordenflycht, 7. April
1847 an Bodelſchwingh.
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 15. März 1847.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/626>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.