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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Krakau und die Westmächte.
matischen Mißgeburt, die man niemals hätte schaffen sollen, endlich den
Garaus zu machen; und mit gutem Grunde wiederholte Metternich be-
ständig: stat pro voluntate necessitas.

Wenn die Westmächte gegen solche Nothwendigkeit die Heiligkeit der
Wiener Verträge anriefen, so handelten sie von Haus aus unredlich; denn
diese Verträge hatte Frankreich durch die Juli-Revolution, England durch die
Anerkennung Belgiens gröblich verletzt, und kein denkender Kopf durfte jetzt
noch verkennen, daß die Weltgeschichte vor dieser papierenen Schranke nicht
ewig still halten konnte. Und wie frech hatten beide Westmächte gegen das
Völkerrecht gesündigt durch die langjährige Begünstigung der polnischen Ver-
schwörer. Dafür gab es gar keine Entschuldigung. Die Versailler Centrali-
sation trieb ihr Unwesen ungescheut dicht vor der Thür der Tuilerien -- was
die conservativen Pariser Blätter selbst rügten -- und vor Kurzem erst hatte
der ehrliche Radicale Duncombe im Parlamente enthüllt, daß die englische
Regierung das Recht der Brieferbrechung nicht nur besaß, sondern auch
handfest ausübte;*) es lag also allein an ihrem bösen Willen, wenn die
polnischen Rebellen unbehelligt blieben. Schon im März 1846, gleich
nach der Besetzung Krakaus mahnte Guizot die drei Höfe salbungsvoll an
"die Achtung vor den Verträgen, eine der festesten Grundlagen der conser-
vativen Politik".**) Nach der Einverleibung legte er (4. Dec.) im Namen
Frankreichs feierliche Verwahrung ein: "Frankreich könnte sich einer That
freuen, welche ihm nach dem Rechte der Gegenseitigkeit erlauben würde,
künftighin nur noch der weitsichtigen Berechnung seiner Interessen zu
folgen. Und doch ist es Frankreich, das an die treue Beobachtung der
Verträge die Mächte erinnert, welche daraus die größten Vortheile gezogen
haben" -- und so weiter noch ein langer Wortschwall.***) Mit vollem
Rechte spottete Canitz über diese "rauhe Rechtschaffenheit". Er wußte,
welche unsauberen Ränke der tugendstolze französische Minister soeben in
Madrid trieb; er wußte auch wie Ludwig Philipp selbst über Guizot's
Sittenpredigten dachte. Eifriger denn je bewarb sich der Bürgerkönig
jetzt um die Gunst des Wiener Hofes, da er in Spanien mit Englands
Feindschaft zu ringen hatte. Mit seiner gewohnten plebejischen Derbheit
sagte er zu Apponyi: Ich habe nie etwas Dümmeres gesehen als die
Republik Krakau. Sie war das Seitenstück zu jener lächerlichen Phrase
von der polnischen Nationalität in unserer Kammer, welche meine Minister
trotz meinem Drängen nie zu bekämpfen den Muth hatten.+)

Auch dem englischen Cabinet lagen die spanischen Händel weit näher
als der Krakauer Streit, der ja gar kein britisches Interesse berührte.

*) Bunsen's Berichte, 17. Juni, 14. Dec. 1844.
**) Guizot, Weisung an Rayneval in Petersburg, 24. März 1846.
***) Guizot, Weisung an den Marquis de Dalmatie, 4. Dec., nebst Begleitschreiben
vom 5. Dec. 1846.
+) Apponyi's Bericht, 23. Nov. 1846.

Krakau und die Weſtmächte.
matiſchen Mißgeburt, die man niemals hätte ſchaffen ſollen, endlich den
Garaus zu machen; und mit gutem Grunde wiederholte Metternich be-
ſtändig: stat pro voluntate necessitas.

Wenn die Weſtmächte gegen ſolche Nothwendigkeit die Heiligkeit der
Wiener Verträge anriefen, ſo handelten ſie von Haus aus unredlich; denn
dieſe Verträge hatte Frankreich durch die Juli-Revolution, England durch die
Anerkennung Belgiens gröblich verletzt, und kein denkender Kopf durfte jetzt
noch verkennen, daß die Weltgeſchichte vor dieſer papierenen Schranke nicht
ewig ſtill halten konnte. Und wie frech hatten beide Weſtmächte gegen das
Völkerrecht geſündigt durch die langjährige Begünſtigung der polniſchen Ver-
ſchwörer. Dafür gab es gar keine Entſchuldigung. Die Verſailler Centrali-
ſation trieb ihr Unweſen ungeſcheut dicht vor der Thür der Tuilerien — was
die conſervativen Pariſer Blätter ſelbſt rügten — und vor Kurzem erſt hatte
der ehrliche Radicale Duncombe im Parlamente enthüllt, daß die engliſche
Regierung das Recht der Brieferbrechung nicht nur beſaß, ſondern auch
handfeſt ausübte;*) es lag alſo allein an ihrem böſen Willen, wenn die
polniſchen Rebellen unbehelligt blieben. Schon im März 1846, gleich
nach der Beſetzung Krakaus mahnte Guizot die drei Höfe ſalbungsvoll an
„die Achtung vor den Verträgen, eine der feſteſten Grundlagen der conſer-
vativen Politik“.**) Nach der Einverleibung legte er (4. Dec.) im Namen
Frankreichs feierliche Verwahrung ein: „Frankreich könnte ſich einer That
freuen, welche ihm nach dem Rechte der Gegenſeitigkeit erlauben würde,
künftighin nur noch der weitſichtigen Berechnung ſeiner Intereſſen zu
folgen. Und doch iſt es Frankreich, das an die treue Beobachtung der
Verträge die Mächte erinnert, welche daraus die größten Vortheile gezogen
haben“ — und ſo weiter noch ein langer Wortſchwall.***) Mit vollem
Rechte ſpottete Canitz über dieſe „rauhe Rechtſchaffenheit“. Er wußte,
welche unſauberen Ränke der tugendſtolze franzöſiſche Miniſter ſoeben in
Madrid trieb; er wußte auch wie Ludwig Philipp ſelbſt über Guizot’s
Sittenpredigten dachte. Eifriger denn je bewarb ſich der Bürgerkönig
jetzt um die Gunſt des Wiener Hofes, da er in Spanien mit Englands
Feindſchaft zu ringen hatte. Mit ſeiner gewohnten plebejiſchen Derbheit
ſagte er zu Apponyi: Ich habe nie etwas Dümmeres geſehen als die
Republik Krakau. Sie war das Seitenſtück zu jener lächerlichen Phraſe
von der polniſchen Nationalität in unſerer Kammer, welche meine Miniſter
trotz meinem Drängen nie zu bekämpfen den Muth hatten.†)

Auch dem engliſchen Cabinet lagen die ſpaniſchen Händel weit näher
als der Krakauer Streit, der ja gar kein britiſches Intereſſe berührte.

*) Bunſen’s Berichte, 17. Juni, 14. Dec. 1844.
**) Guizot, Weiſung an Rayneval in Petersburg, 24. März 1846.
***) Guizot, Weiſung an den Marquis de Dalmatie, 4. Dec., nebſt Begleitſchreiben
vom 5. Dec. 1846.
†) Apponyi’s Bericht, 23. Nov. 1846.
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[555/0569] Krakau und die Weſtmächte. matiſchen Mißgeburt, die man niemals hätte ſchaffen ſollen, endlich den Garaus zu machen; und mit gutem Grunde wiederholte Metternich be- ſtändig: stat pro voluntate necessitas. Wenn die Weſtmächte gegen ſolche Nothwendigkeit die Heiligkeit der Wiener Verträge anriefen, ſo handelten ſie von Haus aus unredlich; denn dieſe Verträge hatte Frankreich durch die Juli-Revolution, England durch die Anerkennung Belgiens gröblich verletzt, und kein denkender Kopf durfte jetzt noch verkennen, daß die Weltgeſchichte vor dieſer papierenen Schranke nicht ewig ſtill halten konnte. Und wie frech hatten beide Weſtmächte gegen das Völkerrecht geſündigt durch die langjährige Begünſtigung der polniſchen Ver- ſchwörer. Dafür gab es gar keine Entſchuldigung. Die Verſailler Centrali- ſation trieb ihr Unweſen ungeſcheut dicht vor der Thür der Tuilerien — was die conſervativen Pariſer Blätter ſelbſt rügten — und vor Kurzem erſt hatte der ehrliche Radicale Duncombe im Parlamente enthüllt, daß die engliſche Regierung das Recht der Brieferbrechung nicht nur beſaß, ſondern auch handfeſt ausübte; *) es lag alſo allein an ihrem böſen Willen, wenn die polniſchen Rebellen unbehelligt blieben. Schon im März 1846, gleich nach der Beſetzung Krakaus mahnte Guizot die drei Höfe ſalbungsvoll an „die Achtung vor den Verträgen, eine der feſteſten Grundlagen der conſer- vativen Politik“. **) Nach der Einverleibung legte er (4. Dec.) im Namen Frankreichs feierliche Verwahrung ein: „Frankreich könnte ſich einer That freuen, welche ihm nach dem Rechte der Gegenſeitigkeit erlauben würde, künftighin nur noch der weitſichtigen Berechnung ſeiner Intereſſen zu folgen. Und doch iſt es Frankreich, das an die treue Beobachtung der Verträge die Mächte erinnert, welche daraus die größten Vortheile gezogen haben“ — und ſo weiter noch ein langer Wortſchwall. ***) Mit vollem Rechte ſpottete Canitz über dieſe „rauhe Rechtſchaffenheit“. Er wußte, welche unſauberen Ränke der tugendſtolze franzöſiſche Miniſter ſoeben in Madrid trieb; er wußte auch wie Ludwig Philipp ſelbſt über Guizot’s Sittenpredigten dachte. Eifriger denn je bewarb ſich der Bürgerkönig jetzt um die Gunſt des Wiener Hofes, da er in Spanien mit Englands Feindſchaft zu ringen hatte. Mit ſeiner gewohnten plebejiſchen Derbheit ſagte er zu Apponyi: Ich habe nie etwas Dümmeres geſehen als die Republik Krakau. Sie war das Seitenſtück zu jener lächerlichen Phraſe von der polniſchen Nationalität in unſerer Kammer, welche meine Miniſter trotz meinem Drängen nie zu bekämpfen den Muth hatten. †) Auch dem engliſchen Cabinet lagen die ſpaniſchen Händel weit näher als der Krakauer Streit, der ja gar kein britiſches Intereſſe berührte. *) Bunſen’s Berichte, 17. Juni, 14. Dec. 1844. **) Guizot, Weiſung an Rayneval in Petersburg, 24. März 1846. ***) Guizot, Weiſung an den Marquis de Dalmatie, 4. Dec., nebſt Begleitſchreiben vom 5. Dec. 1846. †) Apponyi’s Bericht, 23. Nov. 1846.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 555. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/569>, abgerufen am 22.11.2024.