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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 7. Polen und Schleswigholstein.
selber bei den königlichen Verwandten in Potsdam, nach seiner Gewohnheit
Alle überraschend, und fuhr am nächsten Morgen weiter um die Königin
Victoria zu besuchen.

In England wurde der unerwartete Gast mit Ehrenbezeigungen über-
schüttet. Man erlaubte ihm sogar, allem britischen Hofbrauche zuwider,
in Uniform zu erscheinen; denn in bürgerlicher Kleidung fühlte er sich
unbehaglich, als ob man ihm die Haut abgezogen hätte. Die Damen
der vornehmen Welt wollten gerade in diesen Tagen, wie alljährlich, einen
großen Polenball abhalten mit einer Sammlung zum Besten der Flücht-
linge; nun fragten sie sich ängstlich, ob man unter den Augen des Czaren
eine solche Feindseligkeit wagen dürfe. Da richtete Brunnow ein sanftes
Brieflein an die Lady Patroneß, die Herzogin von Somerset: "ich bin
von Sr. Majestät beauftragt, mich mit jeder Summe zu unterschreiben,
deren Sie für Ihren wohlthätigen Zweck etwa noch zu bedürfen glauben."*)
So ward die politische Absicht des Festes vereitelt, in aller Höflichkeit und
zur großen Entrüstung der polnischen Flüchtlinge. Nikolaus erwies der
jungen Königin ritterliche Ehrfurcht, ihren Kindern väterliche Zärtlichkeit,
er pries begeistert die Reize Windsors und des englischen Landlebens.
Immer sprach er im Tone des offenherzigen Biedermannes: ich weiß es
wohl, man nennt mich einen Schauspieler, ich sage aber meine Meinung
stets gerade heraus. Dem Lord Aberdeen betheuerte er gemüthlich: ich
habe den Bund der Westmächte niemals beargwöhnt, sondern ihn immer
für eine Bürgschaft des Weltfriedens gehalten.

Wie konnte er hoffen, die nüchternen englischen Rechner durch solche
Künste zu täuschen? Und was sollten sie gar denken, wenn er ihnen sagte:
Ihr haltet die Türkei für todkrank; ich glaube, sie ist schon todt, also müssen
wir uns über das Schicksal ihrer Trümmer verständigen. Ich will keine Er-
oberungen; der Besitz Konstantinopels würde leicht die Einheit Rußlands, die
Zukunft der russischen Nation gefährden. Aber ein byzantinisches Reich, wie
es König Otto und die Griechen zu erhoffen scheinen, kann ich nicht dulden.
Das hieße mich selbst vernichten vor meinem Volke und meiner Kirche.
Zu irgend einem anderen Abkommen bin ich bereit, und ich hoffe, daß
England mich dabei gegen Frankreich unterstützen wird. Der gradsinnige
Peel und der gutmüthig beschränkte Aberdeen glaubten wirklich, der Czar
sage die Wahrheit; doch auch sie fühlten, wie Prinz Albert und Welling-
ton, den eigentlichen Sinn seiner Worte heraus. Sie erkannten, daß
Rußland unter keinen Umständen eine selbständige Macht auf der Balkan-
halbinsel zu dulden gewillt sei; und da England stillschweigend entschlossen
war, die Bosporuslande nöthigenfalls mittelbar oder unmittelbar sich selber
anzueignen, so führten die höfischen Gespräche nur zum Austausch nichts-
sagender Artigkeiten.**) H. v. Moltke schrieb in diesen Jahren: die Theilung

*) Brunnow an die Herzogin v. Somerset, 5. Juli 1844.
**) Berichte von Thile, London 7. 10. Juni, von Bunsen, 2. Sept. 1844.

V. 7. Polen und Schleswigholſtein.
ſelber bei den königlichen Verwandten in Potsdam, nach ſeiner Gewohnheit
Alle überraſchend, und fuhr am nächſten Morgen weiter um die Königin
Victoria zu beſuchen.

In England wurde der unerwartete Gaſt mit Ehrenbezeigungen über-
ſchüttet. Man erlaubte ihm ſogar, allem britiſchen Hofbrauche zuwider,
in Uniform zu erſcheinen; denn in bürgerlicher Kleidung fühlte er ſich
unbehaglich, als ob man ihm die Haut abgezogen hätte. Die Damen
der vornehmen Welt wollten gerade in dieſen Tagen, wie alljährlich, einen
großen Polenball abhalten mit einer Sammlung zum Beſten der Flücht-
linge; nun fragten ſie ſich ängſtlich, ob man unter den Augen des Czaren
eine ſolche Feindſeligkeit wagen dürfe. Da richtete Brunnow ein ſanftes
Brieflein an die Lady Patroneß, die Herzogin von Somerſet: „ich bin
von Sr. Majeſtät beauftragt, mich mit jeder Summe zu unterſchreiben,
deren Sie für Ihren wohlthätigen Zweck etwa noch zu bedürfen glauben.“*)
So ward die politiſche Abſicht des Feſtes vereitelt, in aller Höflichkeit und
zur großen Entrüſtung der polniſchen Flüchtlinge. Nikolaus erwies der
jungen Königin ritterliche Ehrfurcht, ihren Kindern väterliche Zärtlichkeit,
er pries begeiſtert die Reize Windſors und des engliſchen Landlebens.
Immer ſprach er im Tone des offenherzigen Biedermannes: ich weiß es
wohl, man nennt mich einen Schauſpieler, ich ſage aber meine Meinung
ſtets gerade heraus. Dem Lord Aberdeen betheuerte er gemüthlich: ich
habe den Bund der Weſtmächte niemals beargwöhnt, ſondern ihn immer
für eine Bürgſchaft des Weltfriedens gehalten.

Wie konnte er hoffen, die nüchternen engliſchen Rechner durch ſolche
Künſte zu täuſchen? Und was ſollten ſie gar denken, wenn er ihnen ſagte:
Ihr haltet die Türkei für todkrank; ich glaube, ſie iſt ſchon todt, alſo müſſen
wir uns über das Schickſal ihrer Trümmer verſtändigen. Ich will keine Er-
oberungen; der Beſitz Konſtantinopels würde leicht die Einheit Rußlands, die
Zukunft der ruſſiſchen Nation gefährden. Aber ein byzantiniſches Reich, wie
es König Otto und die Griechen zu erhoffen ſcheinen, kann ich nicht dulden.
Das hieße mich ſelbſt vernichten vor meinem Volke und meiner Kirche.
Zu irgend einem anderen Abkommen bin ich bereit, und ich hoffe, daß
England mich dabei gegen Frankreich unterſtützen wird. Der gradſinnige
Peel und der gutmüthig beſchränkte Aberdeen glaubten wirklich, der Czar
ſage die Wahrheit; doch auch ſie fühlten, wie Prinz Albert und Welling-
ton, den eigentlichen Sinn ſeiner Worte heraus. Sie erkannten, daß
Rußland unter keinen Umſtänden eine ſelbſtändige Macht auf der Balkan-
halbinſel zu dulden gewillt ſei; und da England ſtillſchweigend entſchloſſen
war, die Bosporuslande nöthigenfalls mittelbar oder unmittelbar ſich ſelber
anzueignen, ſo führten die höfiſchen Geſpräche nur zum Austauſch nichts-
ſagender Artigkeiten.**) H. v. Moltke ſchrieb in dieſen Jahren: die Theilung

*) Brunnow an die Herzogin v. Somerſet, 5. Juli 1844.
**) Berichte von Thile, London 7. 10. Juni, von Bunſen, 2. Sept. 1844.
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[528/0542] V. 7. Polen und Schleswigholſtein. ſelber bei den königlichen Verwandten in Potsdam, nach ſeiner Gewohnheit Alle überraſchend, und fuhr am nächſten Morgen weiter um die Königin Victoria zu beſuchen. In England wurde der unerwartete Gaſt mit Ehrenbezeigungen über- ſchüttet. Man erlaubte ihm ſogar, allem britiſchen Hofbrauche zuwider, in Uniform zu erſcheinen; denn in bürgerlicher Kleidung fühlte er ſich unbehaglich, als ob man ihm die Haut abgezogen hätte. Die Damen der vornehmen Welt wollten gerade in dieſen Tagen, wie alljährlich, einen großen Polenball abhalten mit einer Sammlung zum Beſten der Flücht- linge; nun fragten ſie ſich ängſtlich, ob man unter den Augen des Czaren eine ſolche Feindſeligkeit wagen dürfe. Da richtete Brunnow ein ſanftes Brieflein an die Lady Patroneß, die Herzogin von Somerſet: „ich bin von Sr. Majeſtät beauftragt, mich mit jeder Summe zu unterſchreiben, deren Sie für Ihren wohlthätigen Zweck etwa noch zu bedürfen glauben.“ *) So ward die politiſche Abſicht des Feſtes vereitelt, in aller Höflichkeit und zur großen Entrüſtung der polniſchen Flüchtlinge. Nikolaus erwies der jungen Königin ritterliche Ehrfurcht, ihren Kindern väterliche Zärtlichkeit, er pries begeiſtert die Reize Windſors und des engliſchen Landlebens. Immer ſprach er im Tone des offenherzigen Biedermannes: ich weiß es wohl, man nennt mich einen Schauſpieler, ich ſage aber meine Meinung ſtets gerade heraus. Dem Lord Aberdeen betheuerte er gemüthlich: ich habe den Bund der Weſtmächte niemals beargwöhnt, ſondern ihn immer für eine Bürgſchaft des Weltfriedens gehalten. Wie konnte er hoffen, die nüchternen engliſchen Rechner durch ſolche Künſte zu täuſchen? Und was ſollten ſie gar denken, wenn er ihnen ſagte: Ihr haltet die Türkei für todkrank; ich glaube, ſie iſt ſchon todt, alſo müſſen wir uns über das Schickſal ihrer Trümmer verſtändigen. Ich will keine Er- oberungen; der Beſitz Konſtantinopels würde leicht die Einheit Rußlands, die Zukunft der ruſſiſchen Nation gefährden. Aber ein byzantiniſches Reich, wie es König Otto und die Griechen zu erhoffen ſcheinen, kann ich nicht dulden. Das hieße mich ſelbſt vernichten vor meinem Volke und meiner Kirche. Zu irgend einem anderen Abkommen bin ich bereit, und ich hoffe, daß England mich dabei gegen Frankreich unterſtützen wird. Der gradſinnige Peel und der gutmüthig beſchränkte Aberdeen glaubten wirklich, der Czar ſage die Wahrheit; doch auch ſie fühlten, wie Prinz Albert und Welling- ton, den eigentlichen Sinn ſeiner Worte heraus. Sie erkannten, daß Rußland unter keinen Umſtänden eine ſelbſtändige Macht auf der Balkan- halbinſel zu dulden gewillt ſei; und da England ſtillſchweigend entſchloſſen war, die Bosporuslande nöthigenfalls mittelbar oder unmittelbar ſich ſelber anzueignen, ſo führten die höfiſchen Geſpräche nur zum Austauſch nichts- ſagender Artigkeiten. **) H. v. Moltke ſchrieb in dieſen Jahren: die Theilung *) Brunnow an die Herzogin v. Somerſet, 5. Juli 1844. **) Berichte von Thile, London 7. 10. Juni, von Bunſen, 2. Sept. 1844.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/542>, abgerufen am 22.11.2024.