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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Stände, nicht Volksvertreter.
vorzubereiten. Denn ganz etwas Anderes als die süddeutschen Kammern
sollte Preußens künftiger Reichstag werden, nicht eine Volksrepräsentation,
sondern eine Versammlung von Ständen, welche ihre eigenen Rechte zu
wahren hätten, eine im historischen Rechtsboden festgewurzelte Körperschaft,
die eben deshalb weder den befreundeten Ostmächten Anstoß geben noch
die preußische Monarchie dem Staate der Julirevolution in die Arme
treiben könnte. Ganz und gar war der König erfüllt von jener alten Gentzi-
schen Ständelehre, welche der Fürst von Solms-Lich den Höfen neuerdings
wieder mundgerecht vorgesetzt hatte. Er übersah, daß der constitutionelle
bairische Landtag doch auch nach dem Grundsatze der ständischen Gliederung
gebildet war, und ahnte nicht, daß jeder preußische Reichstag, wenn er nur
mehr war als ein kleiner Ausschuß, sich selbst für eine Volksvertretung
ansehen, die öffentliche Meinung an den Tag bringen mußte. Weltkundiger
als der König hatte Dahlmann schon vor Jahren diese nothwendige Entwick-
lung vorausgesagt, als er in einem der schönsten Capitel seiner "Politik"
ausführte: dieselbe Macht der Geschichte, welche überall an die Stelle der
Dienste das Geld, an die Stelle der Sitte die Einsicht, an die Stelle
der Standesmeinung eine öffentliche Meinung gesetzt habe, sie nöthige
auch die alten Landstände zusammenzurücken zu einer Volksvertretung.
Solche Worte konnte der König nur für revolutionär ansehen, denn der
Führer der Göttinger Sieben warnte zugleich vor einer Doktrin, welche
"den Staat halb als Vaterhaus halb als Kirche übertünchen" wolle.

Eben diese Idee des christlich-germanischen Patrimonialstaates war
dem Monarchen heilig; sie wollte er verwirklichen -- "auf Jahrhunderte
hinaus", wie Fürst Solms zuversichtlich meinte -- im bewußten Gegen-
satze zu den Staaten der Volkssouveränität und der papiernen Charten.
Darum durfte ihm auch kein Unterthan einreden in seine verborgenen
Pläne. Im buchstäblichen Sinne verstand er die Mahnung, die ihm
Leopold Gerlach in diesen Tagen zurief: jeder König wird unfähig zu
regieren, wenn ihn das Volk nicht mehr für einen König von Gottes Gnaden
hält. Wie zornig hatte er vor neun Jahren auf "diesen Pumpernickel-
Lafayette" gescholten, als die westphälischen Stände an das Verfassungs-
versprechen zu erinnern wagten und der junge Fritz Harkort sich durch
seine kühne Sprache hervorthat. Das Volk sollte gehorsam abwarten,
was des Königs Weisheit ihm schenken würde; nimmermehr wollte er sich
drängen lassen.

Leider bekundeten jetzt schon mannichfache Anzeichen, wie wenig diese
Regierung einem anhaltenden Drängen zu widerstehen vermochte. Zu-
gleich mit der Verfassungssache hatte Friedrich Wilhelm auch die zweite
der beiden großen Fragen, welche ihm sein Vater ungelöst hinterlassen
hatte, den Bischofsstreit, ernstlich ins Auge gefaßt. Er beschloß, durch
eine Sendung nach Rom, durch unmittelbare Verhandlungen mit dem
Papste den Zwist beizulegen und gestattete schon am 13. Juli dem Erz-

Stände, nicht Volksvertreter.
vorzubereiten. Denn ganz etwas Anderes als die ſüddeutſchen Kammern
ſollte Preußens künftiger Reichstag werden, nicht eine Volksrepräſentation,
ſondern eine Verſammlung von Ständen, welche ihre eigenen Rechte zu
wahren hätten, eine im hiſtoriſchen Rechtsboden feſtgewurzelte Körperſchaft,
die eben deshalb weder den befreundeten Oſtmächten Anſtoß geben noch
die preußiſche Monarchie dem Staate der Julirevolution in die Arme
treiben könnte. Ganz und gar war der König erfüllt von jener alten Gentzi-
ſchen Ständelehre, welche der Fürſt von Solms-Lich den Höfen neuerdings
wieder mundgerecht vorgeſetzt hatte. Er überſah, daß der conſtitutionelle
bairiſche Landtag doch auch nach dem Grundſatze der ſtändiſchen Gliederung
gebildet war, und ahnte nicht, daß jeder preußiſche Reichstag, wenn er nur
mehr war als ein kleiner Ausſchuß, ſich ſelbſt für eine Volksvertretung
anſehen, die öffentliche Meinung an den Tag bringen mußte. Weltkundiger
als der König hatte Dahlmann ſchon vor Jahren dieſe nothwendige Entwick-
lung vorausgeſagt, als er in einem der ſchönſten Capitel ſeiner „Politik“
ausführte: dieſelbe Macht der Geſchichte, welche überall an die Stelle der
Dienſte das Geld, an die Stelle der Sitte die Einſicht, an die Stelle
der Standesmeinung eine öffentliche Meinung geſetzt habe, ſie nöthige
auch die alten Landſtände zuſammenzurücken zu einer Volksvertretung.
Solche Worte konnte der König nur für revolutionär anſehen, denn der
Führer der Göttinger Sieben warnte zugleich vor einer Doktrin, welche
„den Staat halb als Vaterhaus halb als Kirche übertünchen“ wolle.

Eben dieſe Idee des chriſtlich-germaniſchen Patrimonialſtaates war
dem Monarchen heilig; ſie wollte er verwirklichen — „auf Jahrhunderte
hinaus“, wie Fürſt Solms zuverſichtlich meinte — im bewußten Gegen-
ſatze zu den Staaten der Volksſouveränität und der papiernen Charten.
Darum durfte ihm auch kein Unterthan einreden in ſeine verborgenen
Pläne. Im buchſtäblichen Sinne verſtand er die Mahnung, die ihm
Leopold Gerlach in dieſen Tagen zurief: jeder König wird unfähig zu
regieren, wenn ihn das Volk nicht mehr für einen König von Gottes Gnaden
hält. Wie zornig hatte er vor neun Jahren auf „dieſen Pumpernickel-
Lafayette“ geſcholten, als die weſtphäliſchen Stände an das Verfaſſungs-
verſprechen zu erinnern wagten und der junge Fritz Harkort ſich durch
ſeine kühne Sprache hervorthat. Das Volk ſollte gehorſam abwarten,
was des Königs Weisheit ihm ſchenken würde; nimmermehr wollte er ſich
drängen laſſen.

Leider bekundeten jetzt ſchon mannichfache Anzeichen, wie wenig dieſe
Regierung einem anhaltenden Drängen zu widerſtehen vermochte. Zu-
gleich mit der Verfaſſungsſache hatte Friedrich Wilhelm auch die zweite
der beiden großen Fragen, welche ihm ſein Vater ungelöſt hinterlaſſen
hatte, den Biſchofsſtreit, ernſtlich ins Auge gefaßt. Er beſchloß, durch
eine Sendung nach Rom, durch unmittelbare Verhandlungen mit dem
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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 37. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/51>, abgerufen am 23.11.2024.